Alles ganz normale kleine Blockwarte

Jeder zwölfte Einwohner von Blonay am Genfer See ist ein Spitzel. Die reichen Villenbesitzer wollen sich vor Einbrüchen schützen – die Kantonspolizei organisiert die Schnüffelei.  ■ Aus Blonay Judith Raupp

Polizeispitzel? Das läßt Roger Blank nicht auf sich sitzen. Er rutscht ein Stück auf der Couch nach vorn und betont: „Ich führe ein ganz normales Leben.“ Ganz normal, das heißt: auf der Lauer liegen und fremde Autonummern notieren, Nachbarn und unbekannte Dorfbesucher im Auge behalten und auffälliges Verhalten sofort der Polizei melden. Der Unternehmer im Ruhestand, der Ordnung und Disziplin liebt, findet da gar nichts dabei. Er halte lediglich Augen und Ohren offen. Das sei alles. Ganz einfach. Ganz harmlos.

Genauso sehen das auch die anderen 367 Informanten in der 4.400-Seelen-Gemeinde Blonay am Genfer See. Das Projekt „surveillance mutuelle des habitations“ (gegenseitige Überwachung der Wohngebiete) der Waadtländer Kantonspolizei halten sie für eine feine Sache. „Ich fühle mich jetzt viel sicherer“, bekennt Ursula Meier, ebenfalls Informantin in Blonay. Polizeichef Jean-Paul Perret bestätigt: „Seit wir das System eingeführt haben, geht die Zahl der Villeneinbrüche drastisch zurück.“ Um sie geht es in erster Linie, um Herrenhäuser hinter den mannshohen Hecken. Sie thronen hoch oben am Berg, inmitten grüner Wiesen. Wo früher einmal Kühe weideten, der Blick auf den See am schönsten und die Luft am saubersten ist, residiert jetzt ein großer Teil der Direktoren, Manager und leitenden Angestellten des Nestlé-Konzerns im nahen Vevey. Ihre Nachbarn sind gutbetuchte Rentner aus Holland, Frankreich, Italien und Deutschland.

So viel Reichtum auf einem Fleck ist die Ausnahme in Waadtland, wo die Arbeitslosigkeit bei sechs Prozent und damit an der Schweizer Spitze liegt. Nur in den Dörfern rund um Genf wohnen entsprechend wohlhabende Leute, meist Angestellte internationaler Organisationen. „Darum haben wir dort vor zwei Jahren mit unserem Projekt nach dem Vorbild der englischen und amerikanischen ,block watchers‘ begonnen“, erzählt Hauptmann Arnold Moillen von der Kantonspolizei in Lausanne. Den Begriff „Blockwart“ findet er gar nicht bedenklich. Die Empfindlichkeit nazi- und stasigeschädigter Deutscher kann er kaum nachvollziehen. Für ihn zählt nur die Sicherheit der Bevölkerung, vor allem, „daß wir die Reichen vor Einbrechern schützen“.

So sehen das auch die Einwohner von Blonay: „Wir brauchen so etwas nicht“, sagt Susanne Hentsch, „wir schließen einfach die Türe zu, wenn wir weggehen.“ So wie die Frau des Möbelrestaurators denken viele, die in Blonay in einfachen Häusern oder in einer der wenigen Mietswohnungen leben. Sie wollen mit der Spitzelei nichts zu schaffen haben.

Anders die Reichen. „Ganz schlimm war es 1994. Da wurden in Blonay an einem Tag einmal vier Villen ausgeraubt“, erinnert sich Polizist Phillipe Hurmi. Das war zuviel für die Nerven der vermögenden Blonayois. Systematisch wurde das Örtchen auf dem Reißbrett in elf Bezirke geteilt und durchnumeriert. Jeder dieser Straßenzüge erhielt einen „Responsable“, einen Verantwortlichen wie Roger Blank. Ihm berichten die Informanten alles, was ihnen bei Tag und bei Nacht, beim Einkaufen, Spazierengehen, Joggen oder auf dem Nachhauseweg von der Arbeit suspekt vorkommt. Der Verantwortliche entscheidet, ob er die Informationen an die Polizei weitergibt. „Etwa fünfmal im Monat“, schätzt Polizeichef Perret.

Ob ihre Meldung schon einmal zu einer Festnahme geführt hat? „Nein“, gesteht Arlette Pittet, die mit ihrer Familie vor acht Jahren nach Blonay zog. Auch Ursula Meier und Roger Blank haben bisher keinen Verbrecher ins Gefängnis gebracht. Aber es genüge, wenn sich unter den Einbrechern herumspreche, daß Blonay bewacht sei, meint Arlette Pittet. Abschreckung sei wichtig, und so wird sie fleißig weiter observieren und rapportieren.

Mit der gebotenen Diskretion, versteht sich, auch wenn sie die hauptsächlich für die eigene Person beansprucht und den vermeintlichen Verdächtigen gegenüber weniger entgegenbringt. Man hängt eben nicht an die große Glocke, daß man Informant der Polizei ist. Aus Sicherheitsgründen selbstverständlich. Das habe nichts mit Schnüffeln zu tun, beharrt Roger Blank erneut. „Ich beobachte nur und melde, was verdächtig ist, ein fremdes Auto zum Beispiel mit ausländischer Nummer.“

Ursula Meier, die Luzernerin, die mit ihrer Familie seit 1981 in Blonay wohnt, erinnert sich genau an den Tag, als sie einen fremden Mercedes mit „merkwürdigen“ Menschen registrierte. „Merkwürdig“, das heißt in diesem Fall „aussehen wie Araber“. Letzlich habe sie das Auto dann aber doch nicht der Polizei gemeldet.

Hauptmann Arnold Moillen nimmt die Freizeitdetektive in Schutz. „Sie sind keine Rambos, tragen keine Waffen und tun niemandem etwas zuleide“, betont er und beteuert den Erfolg des Projekts zum Wohle der Bevölkerung. Einmal konnte man immerhin einen Bankräuber fassen, weil ein aufmerksamer junger Mann die Autonummer des Verbrechers notiert habe. Sicherlich komme es hin und wieder vor, daß einer seine Sache zu ernst nehme und seine Nase zu tief in die Privatangelegenheiten des Nachbarn stecke. Aber das sei die Ausnahme.

So wird fröhlich weitergeschnüffelt. Dabei hätten die Schweizer allen Grund, beim Thema Spitzeln hellhörig zu werden. Gerade fünf Jahre ist es her, daß sich die ganze Republik über die „Fichen-Affäre“ erregte. Damals wurde bekannt, daß das Militärdepartement heimlich in seinen Akten, den sogenannten Fichen, persönliche Daten von 15 Prozent der Schweizer Einwohner führte, darunter von jedem dritten Ausländer. Die Initiative „Schweiz ohne Schnüffelstaat“ entstand und wollte per Referendum das Verbot jeglicher polizeilicher Überwachung durchsetzen. Die Politiker zeigten sich beschämt und versprachen ein Datenschutzgesetz – doch darauf warten die Schweizer noch immer. Die Fichen sind noch nicht vernichtet, und die Initiative „Schweiz ohne Schnüffelstaat“ wurde dem Volk noch immer nicht zur Abstimmung vorgelegt.

In der Waadt spielt all das keine Rolle. Blonays Bürgermeister Henri Mamin ist begeistert von der Überwachung, und selbst der grüne Chef des Waadtländer Justizdepartements, Philippe Bieler, gewinnt der gegenseitigen Observation nur Positives ab, sieht gar die Solidarität unter den Nachbarn gefördert. Jacques Delaporte, Sprecher und Gemeinderat der Grünen in Montreux, hat bisher gar nicht über das Projekt nachgedacht. Als er dann doch ein paar Gedanken daran verschwendet, kommt ihm das gegenseitige Überwachen zumindest „ein bißchen delikat“ vor.