„Der Zorn hält mich wach“

■ Christiane Kirsch, ARD-Korrespondentin für Südosteuropa, über ihre Arbeit als Kriegsberichterstatterin, die „nicht an vorderster Front tobt“

Als Christiane Kirsch 1993 in die sogenannte Krisenregion Südosteuropa wollte, entdeckten die Kollegen die Sorgfaltspflicht, das heißt, sie wollten sie „vor den Gefahren dort schützen“, sie nicht gehen lassen. Sie ging trotzdem, wurde Südosteuropa-Korrespondentin für die ARD-Hörfunksender. Vom ARD-Büro in Wien aus beliefert sie zusammen mit zwei Kollegen die Sender von vier Uhr morgens bis manchmal spät in die Nacht. Wenn sie nicht gerade mit Schlafsack, Taschenlampe, Taschenmesser und Müsliriegeln im Notgepäck „ihre“ Länder bereist. Zuweilen hat sie auch eine schußfeste Weste dabei, aber nicht an. Dann ist sie gerade in Bosnien-Herzegowina, Kroatien oder Serbien unterwegs. Vorgestern war Christiane Kirsch zu Gast bei „zettBeh“, dem Samstagsmagazin von Radio Bremen 2.

taz: Sind Sie Kriegsberichterstatterin?

Christiane Kirsch: Ich sehe mich nicht als eine Kriegsberichterstatterin in dem Sinne, daß ich da vorne an vorderster Front rumtobe. Weil man dort nichts erfährt. Und weil ich auch Angst habe. Ich hatte ein Erlebnis, da sind wir von Zentralbosnien aus in ein Gebiet der kroatisch-muslimischen Föderation gefahren, sind frühmorgens im gepanzerten Fahrzeug los, und die europäischen Beobachter sagten zu mir, unsere Morgenberichte sehen nicht gut aus, es wird von dort starker Beschuß gemeldet. Wir fuhren hin, es war friedlich, ich habe nicht mal eine Detonation gehört, und wir kamen zurück und haben am Abend erfahren, daß während des ganzen Tages das Gebiet unter heftigem Beschuß lag. Da wurde mir klar, daß man immer nur einen sehr kleinen, begrenzten Teil selbst wahrnehmen kann, wenn man unterwegs ist. Und schon nicht mehr mitbekommt, was zwei Kilometer weiter passiert, oder am anderen Ende einer Stadt. Und das muß man immer berücksichtigen, wenn man den Anschein erweckt, vor Ort zu sein und alles zu wissen. Das ist nicht möglich.

Was ist Ihre Rolle, wenn Sie aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien oder Serbien berichten?

Ich sehe meine Rolle darin, möglichst korrekte Informationen zusammenzutragen. Die wirkliche Wahrheit kann, glaube ich, niemand ermitteln, denn die ist in diesem Krieg auf der Strecke geblieben. Man muß diese Informationen zusammensetzen wie ein Mosaik und dann eine Bewertung anbieten. Mehr ist nicht möglich. Wichtig ist auch, immer anzugeben, welche Quellen wir haben. Immer zu sagen, das ist die bosnische Sicht der Dinge, das ist die serbische Sicht der Dinge. Nie so zu tun, als wüßte ich genau, was vor sich geht, denn das weiß oft auch nicht die Uno, obwohl sie vielleicht Militärbeobachter vor Ort hat. Ich sehe meine Rolle auch darin, die Leute, die der vielen Kriegsberichterstattung langsam müde geworden sind, darauf aufmerksam zu machen: Es geht nicht um leere Politikerstellungnahmen und folgenlose Uno-Resolutionen, es geht um Menschen, es geht um deren Leben, um deren Schicksale. Und es geht darum, diese Menschenleben zu retten.

Mir geht es darum, eine Art Grundinteresse zu erhalten. Ich will auf gar keinen Fall tränenreiche Geschichten verbreiten, ich möchte es den Leuten erleichtern, die Schicksale nachzuvollziehen.

Kritische Stimmen würden jetzt sagen, das ist der klassische, weiche Frauenjournalismus.

Ich höre es oft von Kollegen, die dann froh sind, solche Geschichten zu bekommen. Anderseits kenne ich Kollegen, die auch sehr sensibel unterwegs waren, auch mal über Alltagssituationen berichtet haben. Mir geht es einfach nicht darum, den Granathagel möglichst laut auf dem Band zu haben. Ich habe mich zum Beispiel noch nie nach Sarajevo getraut. Es wird niemand gedrängt, irgendwohin zu fahren, das sind persönliche Entscheidungen.

Wo waren Sie zuletzt?

Kürzlich war ich in vier Wochen fünfmal unterwegs, in Kroatien, in Restjugoslawien, in Ungarn, wieder in Belgrad, wieder in Kroatien, dazwischen Pausen von ein, zwei, drei Tagen in Wien. Das ist zwar anstrengend, aber es ist auch sehr eindrucksvoll, weil man den direkten Vergleich hat. Gerade durch den Wechsel von Zagreb nach Belgrad. Die Darstellung des Krieges in Bosnien-Herzegowina aus der jeweiligen Sicht heraus ist so unterschiedlich, daß es sehr, sehr spannend ist, mitzubekommen, wie die Medien über den Krieg berichten.

Wie kommen Sie selbst an Informationen?

Wir haben Mitarbeiter, „Stringer“. Das sind meist Einheimische, die für uns Zeitungen auswerten, Berichte schicken, den Kontakt zu wichtigen Gesprächspartnern halten, uns begleiten und übersetzen, wenn wir da sind. Das sind natürlich auch Vertrauenspersonen für uns. Viele haben wir über persönliche Kontakte gefunden. Ruft man bei den Uno-Büros an, weil man sich eine verbreitete Meldung bestätigen lassen will, ist oft nur „we cannot confirm“ zu hören. Wobei die Uno natürlich in ihrer Bewegungsfreiheit auch eingeschränkt ist. Opferzahlen zum Beispiel müssen immer von den lokalen Behörden übernommen werden.

Dann gehen Sie selbst raus?

Wir überlegen gemeinsam: Wie kriegen wir diese Krise im Moment am besten in den Griff? Das heißt, wo brauchen wir jemanden? Wir brauchen natürlich jemanden in Wien, der von Wien aus die alltägliche Berichterstattung übernimmt, der immer ansprechbar ist. Beim Fall der sogenannten Uno-Schutzzonen Zepa und Srebrenica war klar, dorthin selbst, an den Brennpunkt selbst, kommt man nicht. Dann wurde ein Reporter nach Tuzla geschickt, wo die Flüchtlinge ankamen. Dann war jemand in Split, um die Ankunft der deutschen Sanitäter beobachten zu können, aber auch um gleich wieder nach Zentralbosnien hochzufahren, wo die Flüchtlinge aus Zepa ankamen. Die Reporter bekommen dort natürlich immer nur einseitige Informationen. Diese werden dann mit Wien ergänzt, wo ja sämtliche Agenturmeldungen einlaufen.

Haben Sie nie das Gefühl, den Überblick zu verlieren?

Ich glaube, wir haben noch den Überblick. Ich muß es vorsichtig sagen: Die groben Linien sind uns vertraut. Wir stecken aber auch in einer Informationsmühle, Unsicherheiten sind also immer da. Vor allem, wenn es um Einschätzungen geht, empfinde ich es immer als sehr schön, daß man mit sehr vielen Kollegen diskutieren kann. Anders wäre es gar nicht machbar.

Welche Spielregeln müssen Sie denn beachten, wenn Sie unterwegs sind?

Man sollte nicht unbedingt mit einem kroatischen Nummernschild ins ostbosnische Mostar reinfahren. An die Front kommt man sowieso nur, wenn die Militärs einen mitnehmen. Wer das anders versucht, ist ein wirkliches Greenhorn. Man lernt außerdem, daß man Bakschisch braucht.

Sie konnten sich problemlos fortbewegen? Als Frau?

Da habe ich überhaupt keine schlechten Erfahrungen gemacht. Überhaupt hat gerade die BBC einige bewunderswerte Frauen im Kriegsgebiet. Ich selbst bin oft mit den europäischen Beobachtern mitgefahren, die sehr erfahren sind zum Teil. Und dann auch gepanzerte Autos haben. Oder mit Taxifahrern, die oft weiterempfohlen werden. Es gibt welche, die für 300 Mark für Fahrer, Sprit und das Risiko, das Fahrzeug zerstört zu bekommen, bereit sind, Journalisten zu transportieren.

Und was hat Sie auf Ihren Reisen am meisten erstaunt?

Die Begegnung mit einer alten Kroatin. Sie lebte völlig allein in einem zerstörten Dorf auf serbischem Gebiet, in einer alten Kate. Diese Frau war bester Dinge. Ihre Ausgeglichenheit in dieser völlig verzweifelten Situation hat mich am allermeisten erstaunt. Sie hielt sich irgendwie über Wasser, hatte natürlich auch kein Geld. Sie sagte, da hinten würden ein paar Kartoffeln wachsen, irgendwie schaffe sie das schon. Ein Problem sei nur, daß sie gerne rauche und sich keine Zigaretten kaufen könne. Daß diese Frau noch Humor hatte, hat mich ungemein fasziniert.

Haben Sie denn noch Motivation, über diesen Krieg zu berichten?

Im Moment ist meine Motivation ganz schön groß und wird genährt durch Wut und Zorn. Das hält mich wach und motiviert mich auch, viele Hintergrundberichte zu machen und viele Kommentare zu schreiben. Natürlich fragen die Moderatoren in den ARD-Sendern immer dasselbe: Weshalb greift die Uno nicht ein? Und wie wird die Nato weiter vorgehen? Kommt es jetzt zu Luftangriffen, endlich mal? Und man fragt: wieso? Habt Ihr Euch überlegt, was dann passiert? Und dann erklärt man das, und man erklärt es zehn Mal am Tag.

Was ist Ihre dringlichste Forderung an die westlichen Länder?

Jetzt schon Anreize zu schaffen, den Frieden zu bewahren, den sogenannten befriedeten Gebieten Wirtschaftshilfe zu geben. Und an die Rettung von Menschenleben zu denken, und nicht an die Rettung einer Ehre, die es nicht mehr gibt. Oder irgendeines Ansehens des Westens, weil das in Bosnien-Herzegowina längst über Bord gegangen ist. Und sich nicht mehr in solchen hohlen Formulierungen zu ergehen, weil ich die menschenunwürdig finde. Selbst die Uno spricht von „Evakuierung“ der Menschen aus Zepa und Srebenica. Das sind Deportationen.

Fragen: Silvia Plahl