Die Kunst der Erfolglosigkeit

Ein letztes Mal Ratschläge aus der nettesten aller Welten: Ror Wolfs Raoul Tranchirer nimmt Abschied  ■ Von Jürgen Roth

1990, im zweiten Band der Ror Wolfschen Ratschläger-Trilogie erließ Raoul Tranchirer, Erfinder, Autor und Mastermind der „Wirklichkeitswissenschaft“ und seines Zeichens mutmaßliches Alter ego Ror Wolfs, an alle Welt den dringlichen Aufruf, das Wesen der Wirklichkeitsforschung auszudehnen auf jedes nur denkbare Wissens- und Erfahrungsfeld. Wer nach der Lektüre seiner Schriften die wahre „Absicht der Welt- und Wirklichkeitslehre, die Erhellung sämtlicher Fragen“ hinreichend genau erfaßt habe, müsse „sich unverzüglich zusammentun, um einen Wirklichkeitsverein zu gründen.“

Gefolgt ist dem nachdrücklichen Appell hierzulande bislang einzig und allein ein Nehrener Buchhändler, von dem bekannt ist, daß er unter dem Namen Alois Roßnagel seine stete Arbeit an der Erkenntnis der Wirklichkeit vorantreibt. Rätselhaft wie dessen Wirken bleibt auch jenes von Ror Wolf. Seit Jahren einhellig gelobt und gepriesen wie kaum ein anderer, ist ihm der durchschlagende Erfolg bis heute verwehrt geblieben. Gründe sind unbekannt. Vielleicht ist die Existenz eines Autors, der mit „Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens“ sein Hauptwerk beschließt, tatsächlich das Resultat rätselhafter Verstrickung in solch düstere Weltvorgänge, wie sie Eckhard Henscheid in der Ror Wolf gewidmeten Erzählung „Zornheim“ beschwor. Dort nehmen Wolfs kaum mehr zählbare Umzugsetappen wahrlich kosmologisch-irre Dimensionen an. Im Scheitern scheint das Moment gefunden, das die Welt des Ror Wolf zusammenhält.

Paradox ist das nicht: Wer sich im Zuge seiner schriftstellerischen Tätigkeit ohne Unterlaß der Bedrohung des eigenen Lebensuntergrundes ausgesetzt sieht, verfaßt Ratschlägerliteratur, in der die Unkontrollierbarkeit aller weltlichen Ereignisse gebannt werden soll – freilich mit dem Ergebnis, daß sie sich einmal mehr gegen den Autor wenden und ihn schließlich gar zum Verschwinden bringen.

Erschütternd: Literatur ist doch nicht folgenlos

Roßnagel, der Wirklichkeitsverein Tübingen (WVT) in Person, seinerseits erzählt, nach einer Lesung Ror Wolfs habe dieser, als ihm die Gründung des WVT zu Ohren gekommen war, ausgerufen: „Ich bin erschüttert. Die Literatur ist doch nicht folgenlos!“ – was er mit der Bestellung eines neuen, besonders prächtigen Weinpokales quittierte. Einen Hinweis auf das verzweifelte Werben um öffentliche Anerkennung finden wir im erwähnten zweiten Band, „Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle“, unter der Eintragung „Wort“: „Schon das Wort Buch läßt Teile des Publikums in einen schlafähnlichen Zustand versinken. Sie schütteln wie im Traum ihre Köpfe, und wie im Traum entfernen sie sich, um eine Gegend zu erreichen, wo, wie im Traum, kein Buch ist, kein Wort. Nur eine schöne stöhnende Stille. Ich war übrigens einer der ersten, der die Existenz dieser Stille, dieser schönen stöhnenden Stille erkannt und beim Namen genannt hat.“

Wolfs Enttäuschung ist, ähnlich seiner sukzessiven Abschiede (1990 schrieb er ein definitiv letztes Fußballsonett), stets Motiv und Gegenstand der eigenen literarischen Arbeit. Diese Form von Selbstreflexivität schafft jedoch gerade innerhalb der Ratschläger- Trilogie kaum mehr Klarheit etwa darüber, ob Wolf sich mit der Figur Tranchirers kontinuierlich nur selbst bespricht. Die Kunstfigur Tranchirer ist ohnehin kaum mehr von der Schattengestalt Wolf zu trennen. Im letzten Band der Trilogie wird unter dem Stichwort „Autor“ bezeichnenderweise mitgeteilt: „Es liegt etwas völlig Ungewöhnliches in der Geschwindigkeit, mit welcher der vor kurzem noch unbekannte Verfasser sich inmitten ungünstigster Weltverhältnisse eine glänzende Stellung in der Literatur der Gegenwart erobert hat. Aber zugleich enthält diese Tatsache etwas Hocherfreuliches, den Beweis, daß es auch jetzt noch dem echten originalen Ratschläger gelingt, einen Zwang auf seine Mitlebenden auszuüben, dem sich selbst die Abneigung unserer Zeit gegen die Wirklichkeit nicht zu entziehen vermag.“

Das mit der „glänzenden Stellung“ ist wiederum mehr Wunschtraum als Einsicht in die Wirklichkeit. Denn auf ein Vorwort, in dem die mächtige Wirkung des Ratschlägerwesens nochmals gepriesen würde, muß der neueste Band verzichten. Tranchirer ist nämlich verschwunden, hat seinen Abschied aus diesem Universum der Dinge, Stichwörter und der konkurrierenden Ratschlägerliteratur genommen. Wolf inszeniert sein eigenes mähliches Verblassen in textlichen und figürlichen Doubles. Collunder, einer seiner treuesten Mitarbeiter, verficht gegen die feindlich gesonnenen Forschungen des infamen Dr. Klomm noch einmal den „Erfolgsmenschen“ Tranchirer; und Wobser, stets präsent als kluger Kompagnon, rühmt posthum dessen „grandiosen Mißerfolg. Die Menge, die nicht gewohnt ist, nachzudenken, ignoriert ihn und lehnt ihn ab. Das macht ihn bedeutend.“

Aber um was geht es eigentlich in dieser „nettesten aller Welten“, was regt sich zwischen und unter ihren „schwieligen Verdickungen, Entzündungen, Schwellungen und Erschlaffungen“ als „ihren allernatürlichsten Zuständen“? Tranchirer agiert gegen Dr. Klomms erhabenen Kulturbegriff, indem er Sprache als präzise beschreibbare Hervorbringung von Lauten mittels der Sprechwerkzeuge vorstellt, indem er die Schnittstellen zwischen Natur und Kultur und die allgemeine Porosität der Welt bezeugt, indem er eine Mikrophysik des Sittenzusammenhangs erarbeitet, die prompt in dem Moment ins Kosmologische schwappt, da man glaubt, den in seinen kleinteiligen Bezügen dargestellten Gegenstand dingfest gemacht zu haben.

So ist es, aber freilich muß es nicht so sein

Das alles steht im Dienste einer möglichst „wirklichkeitsnahen“ und enzyklopädischen Repräsentation von Weltzuständen. Ob allerdings die in Länder- und Seelenkunde, Kochkunst, Reparaturwesen und Erkenntnistheorie, Kriminalistik und allgemeiner Verbrechenswissenschaft sowie in Eisenbahnwesen, Fortbewegungsdidaktik und Wohnstubenmedizin präsentierten lehrreichen Hinweise zur Lebensführung recht weiterhelfen können, ist keineswegs gesichert. Brenzlig ist schon die selbstwidersprüchliche Beweisführung, die oft im Dementi des aufwendig Besprochenen endet: „Das muß aber nicht so sein.“ So zeigen die wieder zahlreich beigegebenen Collagen: das Universum des Bürgers ist die permanent-latente Katastrophe. Er steht vor oder neben dem drohenden Unheil in ruhender Pose, als gelte es entweder zu ignorieren, was da auf ihn zukommt – oder sich einzurichten in diesem Interieur aus Beschaulichkeit und Naturwillkür. Dessen ungeachtet will die Trilogie ein Haus- und Familienbuch sein, das Trost spendet. Es erinnert an die mannigfachen Möglichkeiten in der vom Bürgertum bewohnten Welt, den Zusammenbrüchen einer ins Monströse gesteigerten Alltäglichkeit zu wehren. Prophylaktisch möge man sich auf anstehende gesellschaftliche und gesundheitliche Mißgeschicke vorbereiten: So „eignen sich Kartenspiele durchaus, um für Ruhe zu sorgen“.

Ror Wolf schreibt eine grotesken Sitten- und Naturlehre, das ein verlorenes Bürgertum mit der humoristischen Würde vergeblicher Anstrengungen ausstattet. Zu guter Letzt regiert über das enzyklopädische Unterfangen die schlichte Fatalität der Zeitlichkeit – sicher geglaubte, abschließende Erkenntnis wird dem Fall ins Ungewisse überantwortet. „Durch die Zwischenräume des Lebens grinst uns die leere Zeit an. Wir können sie sehen, und je deutlicher wir sie sehen, um so dünner und länger erscheint sie uns. Zum Glück gibt es drohende Gefahren, schwere Unglücksfälle und Umzugsquerelen, sie wirken auf unsere von der Zeit erschlafften Lebensgeister wie die Riechsalze, die man ohnmächtigen Damen unter die Nase hält.“

Nun, da die enzyklopädische Welt- und Wirklichkeitslehre komplett vorliegt, könnte der Fall Ror Wolf für abgeschlossen gelten. Es wäre an den Lesern, der Finalität des Werkes zu widersprechen. Am Ende hätten sie dem letzten Eintrag, betitelt „Zustimmung“, wirklich Genüge getan, wenn sie sich erhöben, kräftig applaudierten und sich entschlössen, Raoul Tranchirer ein letztes Mal, aber vollen Herzens die Ehre zu erweisen.

Ror Wolf: „Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens“. Anabas Verlag, Gießen, 240 Seiten, geb., 90 Collagen, 128 DM.