Mit der Angst leben

Jahrzehntelang wurden die Langzeitfolgen unterschätzt: 50 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki sterben „Überlebende“ immer noch an den Auswirkungen der Atomexplosionen  ■ Von Wolfgang Löhr

Für General Leslie Groves, den militärischen Leiter des Manhattan-Projeks, gab es keinen Zweifel: Sobald die Superbombe fertiggestellt ist, wird sie eingesetzt. Drei Jahre hatte Groves über 120.000 Menschen in den Atomschmieden Los Alamos, Oak Ridge und Hanford befehligt, um die Atombombe zu bauen. Jetzt mußte auch die Wirkung demonstriert werden. Bereits im Frühjahr 1945 standen vier japanische Städte als mögliche Zielobjekte auf der Liste: Hiroshima, Kokura, Nagasaki und Niigita. Diese Städte durften ab sofort von der US-Luftwaffe nicht mehr bombardiert werden. Für Groves und viele der Wissenschaftler war es ein Experiment: Sie wollten die Zerstörungswucht der Bombe untersuchen. Das atomare Inferno, das am 6. und 8. August 1945 die trügerische Ruhe in Hiroshima und Nagasaki beendete, war aber auch der Startpunkt für ein weiteres wissenschaftliches Projekt, das es in diesem Ausmaß zuvor noch nicht gegeben hatte: die umfassendste Studie über die Langzeitwirkungen energiereicher Strahlen.

Bereits Anfang September schickte die US Army erste Medizinerteams in die zerstörten Städte. Da es bisher nur wenig Kenntnisse gab über die Symptome bei einer tödlichen Strahlendosis, waren die US-Mediziner vor allem an Opfern interessiert, die kurze Zeit nach der Atombombenexplosion starben. Die Mediziner hatten die Aufgabe, Kriterien aufzustellen, die es künftig ermöglichten, dem Tod geweihte Strahlenopfer zu selektieren. Medizinische Maßnahmen könnten so auf die noch zu rettenden Überlebenden konzentriert werden.

Nach Schätzungen starben in Hiroshima zwischen 90.000 und 120.000 Menschen in den ersten vier Monaten nach der Bombenexplosion. In Nagasaki, schätzt man, wurden etwa 70.000 Menschen getötet. Genaue Zahlen der Opfer wird es nie geben, da die Unterlagen der Stadtbehörden ebenfalls vernichtet wurden. Die meisten Toten gab es im Umkreis von 1,2 Kilometern um den Explosionsort. Dort überlebte kaum jemand. Mit zunehmender Entfernung vom Nullpunkt erhöhte sich die Überlebenschance. In zwei Kilometer Entfernung stieg sie auf 80 Prozent. Wer der Hitze und Druckwelle und der anschließenden Feuersbrunst entging, war von Krebs bedroht. Scheinbar unverletzt geblieben, starben viele der Strahlenopfer erst nach Tagen oder Wochen an einer Krankheit, die der australische Journalist Wielfred Burchett die „Atom- Pest“ nannte. Burchett, der Anfang September nach Hiroshima reiste, war der erste, dessen Berichte aus Hiroshima in der internationalen Presse erschienen. Seine Schilderungen wurden von den Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts als „japanische Propaganda“ bezeichnet. Sie wollten nicht glauben, daß die Menschen noch nach Monaten an der Strahlenkrankheit starben.

Obwohl die Opfer in den beiden zerstörten Städten dringend medizinische Hilfe nötig hatten – in Hiroshima waren nicht nur die meisten Kliniken zerstört, auch 270 der 298 Ärzte waren bei der Atomexplosion ums Leben gekommen –, war es den US-Medizinern untersagt, die Atomopfer zu behandeln. Dieser Politik war auch die 1946 gegründete Atomic Bomb Casuality Commission (ABCC) unterworfen, die – finanziert von der US Atom Energy Commission (AEC), dem späteren Energieministerium – ein umfangreiches genetisches Untersuchungsprogramm durchführte. Mit Hilfe von japanischen Kinderärzten und Hebammen registrierte die ABCC rund 76.000 Geburten. Die Geburtshelfer mußten das Gewicht und die Größe der Neugeborenen angeben, auf Anomalien achten und die Mutter befragen, wo sie oder der Vater sich zum Zeitpunkt der Atomexplosion aufgehalten hatte. Von Interesse waren auch Fehl- und Totgeburten.

Daß energiereiche Strahlungen zu genetischen Schädigungen führen können, war seinerzeit schon durch die Erfahrungen mit der Röntgenstrahlung bekannt. Auch hatte in den zwanziger Jahren der Genetiker Hermann Josef Muller mit Experimenten an der Fruchtfliege Drosophila die erbgutverändernde Wirkung ionisierender Strahlen nachgewiesen. Aber noch war die Mutation ein abstrakter Begriff: Die Erbsubstanz war noch nicht entschlüsselt; Schädigungen des Genoms konnten nur anhand von Veränderungen der äußeren Gestalt oder aber durch neu auftretende Erbkrankheiten entdeckt werden.

Bereits um die erste Veröffentlichung der Studienergebnisse, 1953 im Wissenschaftsmagazin Science, gab es Auseinandersetzungen in der ABCC über die Interpretation der Daten. Wie die Wissenschaftshistorikerin Susan Lindee von der Universität Pennsylvania in ihrem vor kurzem erschienenen Buch Suffering made Real berichtet, bedrängte ein Kollege den ABCC- Wissenschaftler James Neel, einzelne negative Befunde unter den Tisch fallen zu lassen. Neels Auswertung zufolge war nicht nur die Rate der Totgeburten erhöht, sondern es gab auch eine geringfügige Verschiebung des Geschlechterverhältnisses: Strahlenbelastete Eltern gebaren im Vergleich zu der Kontrollgruppe mehr Mädchen. Zudem hatten die Kinder ein größeres Gewicht. Neel wurde aufgefordert, in seinem Bericht zu schreiben, daß es „keinerlei Kenntnisse über einen negativen Strahleneffekt“ gebe. Es sollte verhindert werden, daß der Bericht in den USA zu einer ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber der Atomtechnologie führt – hatte die AEC doch gerade ihre Kampagne „Atom for Peace“ gestartet. Zudem gab es in der Öffentlichkeit vereinzelt Stimmen, die sich besorgt über den Fallout der Atombombenversuche in der Wüste Nevada äußerten. Bisher hatte die Öffentlichkeit weitgehend die Verlautbarungen der US- Regierung, daß keine Gefahr bestehe, akzeptiert. Zum Teil wurde sogar die Meinung vertreten, eine geringfügige Strahlendosis sei gesundheitsfördernd.

In Japan dagegen äußerten immer mehr der einheimischen Wissenschaftler, die für die ABCC tätig waren, ihren Unmut. Sie unterlagen den strengen Zensurbestimmungen der amerikanischen Besatzungsbehörde, die jedwede Veröffentlichung über Hiroshima oder Nagasaki untersagte. Wollten japanische ABCC-Forscher eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlichen, mußten die Manuskripte bei der Besatzungsbehörde eingereicht werden. Sie müßten erst in den USA geprüft werden, hieß es dort. Erst nach Jahren – wenn überhaupt – erhielten die Wissenschaftler ihre Manuskripte zurück. An eine Veröffentlichung war dann natürlich nicht mehr zu denken.

Auf Mißfallen stieß auch die strikte Order, daß die ABCC-Mitarbeiter den Strahlenopfern, die sie für die Studie untersuchten oder befragten, keine medizinische Hilfe geben durften. Offiziell hieß es, die US-Ärzte hätten nicht die nach japanischem Recht erforderlichen Prüfungen abgelehnt. Unterderhand wurde aber zugegeben: Es solle der Eindruck vermieden werden, die USA hätten wegen des Einsatzes der beiden Atombomben ein schlechtes Gewissen. Der Vorwurf, die Japaner würden als „Versuchkaninchen“ benützt und die ABCC betreibe „Wissenschaftskolonialismus“, zog immer weitere Kreise.

Das Verhältnis zwischen den US-amerikanischen und japanischen Forschern änderte sich erst, als 1975 die ABCC reorganisiert und in Radiation Effects Research Foundation (RERF) umbenannt wurde. Ein bilateraler Vertrag zwischen den USA und Japan sicherte den japanischen Wissenschaftler ein gleichberechtigtes Mitspracherecht zu. 23 Jahre nach der Beendigung der amerikanischen Besatzungszeit in Japan wurde damit auch der „Wissenschaftskolonialismus“ beendet.

Ziel der neuen Organisation ist weiterhin die Untersuchung der Langzeitschäden bei den Strahlenopfern. In einem als Life Span Study (LSS) bezeichneten Projekt stehen seitdem über 90.000 Überlebende unter Beobachtung der Wissenschaftler. Nach wie vor haben die Strahlenmediziner jedoch ein unlösbares Problem: Es ist technisch nicht möglich, festzustellen, welcher Strahlung ein Betroffener ausgesetzt war. Die Einteilung der Überlebenden in verschiedene Betroffenengruppen erfolgt immer noch aufgrund der Befragungen. Die Zuordnung der Strahlenschäden zu einer bestimmten Strahlendosis ist somit Zufällen ausgesetzt. Mehrmals mußten von der RERF bereits Umgruppierungen vorgenommen werden. Im nachhinein gaben die RERF-Mitarbeiter zu, daß sie die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung unterschätzt hatten. Insbesondere bei den Langzeitfolgen durch geringe Strahlendosen, wie sie auch in und um Atomkraftwerke auftreten, mußten Nachbesserungen vorgenommen werden. „Überlebende“ von Hiroshima und Nagasaki sterben immer noch an den Auswirkungen der Atombombenexplosionen. Die neusten Ergebnisse der RERF gehen davon aus, daß sie gegenüber der unbelasteten Bevölkerung ein um zehn Prozent erhöhtes Krebsrisko haben.