Harry Wu – wieder in Haft

Seit Jahren informiert Chinas bekanntester Dissident über das Straflagersystem. Jetzt droht ihm die Anklage: Verrat von Staatsgeheimnissen  ■ Von Jutta Lietsch

Als Harry Wu am 19. Juni dieses Jahres von Kasachstan aus kommend in China einreiste, schnappte die Falle zu. Sicherheitsbeamte nahmen den 58jährigen Dissidenten fest und brachten ihn an einen unbekannten Ort. Sie verweigerten ihm jeden Kontakt zur US- Botschaft. Einen Monat später teilten die Behörden mit, daß gegen Wu wegen „Verrats von Staatsgeheimnissen“ ermittelt werde. Am vergangenen Donnerstag präsentierte die offizielle chinesische Nachrichtenagentur Xinhua einen Videofilm, der einen blassen und nervösen Harry Wu zeigte, der ein „Geständnis“ ablegte.

Diese Aufnahmen, ausgestrahlt unter dem Titel „Die Lügen des Harry Wu“, zeigen Wu beim Verhör. Darin gibt er zu, daß zwei Filme, die er für den britischen Sender BBC über Gefangenenarbeit und den Handel mit Organen zum Tode Verurteilter gemacht hat, unwahre Tatsachen enthalten hätten. Wie diese „Geständnisse“ zustande gekommen sind, ist völlig unklar. Es ist zu befürchten, daß Wu stark unter Druck gesetzt wird. Die BBC hat erklärt, daß der Inhalt der Filme der Wahrheit entsprechen.

Harry Wu war in den vergangenen Jahren schon mehrfach in seine Heimat zurückgekehrt, um über die Arbeitslager in China zu berichten, die er 19 Jahre lang durchlitten hatte. Vor dem US- amerikanischen Kongreß, im Fernsehen und in seinem Buch „Nur der Wind ist frei“, hat er die internationale Öffentlichkeit über die Torturen und das Sterben im chinesischen Strafsystem informiert. Er wußte genau, daß auch sein neuer US-amerikanischer Paß ihn nicht vor der Rache der chinesischen Politiker schützen wird und dennoch fuhr er wieder nach China. Sollten die Ermittlungen zu einem Prozeß führen, muß Harry Wu mit einer hohen Haftstrafe rechnen.

Das wäre zugleich das erste Mal, daß der ehemalige politische Gefangene Wu Hongda, der den Vornamen „Harry“ in seiner von Jesuiten geführten Grundschule erhielt, vor einem chinesischen Richter steht. Denn als er 1960 als 23jähriger Student der Geologie erstmals im Arbeitslager verschwand, geschah dies ohne ein Gerichtsurteil, nur „auf Anweisung der Behörden“.

Wie Hunderttausende von Menschen im ganzen Land, war Wu der „Kampagne gegen die Rechtsabweichler“ zum Opfer gefallen. Mit ihr reagierte die Kommunistische Partei Ende der 50er Jahre auf die wachsende Kritik an ihrer Herrschaft. Diese Säuberungskampagne wurde von Deng Xiaoping – der sie bis heute verteidigt – geleitet, und sie erfaßte die Städte ebenso wie das Land. Unter Intellektuellen wurde sie besonders gnadenlos durchgeführt. Harry Wu, der in Schanghai aufgewachsen und zum Studium nach Peking gezogen war, wurde zum „konterrevolutionären Rechtsabweichler“, weil er in einer Diskussion erklärt hatte, der Einmarsch sowjetischer Soldaten in Ungarn habe gegen internationales Recht verstoßen. Wer erst einmal zur Zielscheibe der revolutionären Kritik geworden war, brauchte sich auch um absurdere Vorwürfe nicht sorgen: Um die eigene Haut zu retten, denunzierte ihn ein Freund, mit dem er gemeinsam Baseball spielte: „Wir decken hiermit den Tatbestand auf, daß der Konterrevolutionär Wu Hongda unsere Mannschaft in eine kapitalistische Richtung geführt hat.“ Daß es unwichtig war, was man ihm vorwarf, wurde ihm erst viel später klar: „Ich ahnte nicht, daß für jede Universität und für jedes Institut eine Quote von Rechtsabweichlern festgelegt worden war und daß jedes Parteikomitee die Aufgabe hatte, die vorgeschriebene Zahl von Personen zu maßregeln.“

19 Jahre lang durchlitt Wu die verschiedensten Arbeitslager. Die große Hungersnot Anfang der 60er Jahre überlebt er nur, weil er sich am grausamen Überlebenskampf der verhungernden Häftlinge beteiligt: Er schlägt einen anderen Gefangenen nieder und stiehlt ihm dessen Beute – den Inhalt eines Rattenloches. „Selbst wenn die Ratte entkommen war, würde ihr Nest mit Schätzen gefüllt sein ... Ich hörte auf zu graben, richtete mich auf und schrie den mir zuschauenden Häftling an: ,Hau sofort ab!‘ ,Warum?‘ fragte er zornig. ,Ich habe dich zur Hilfe geholt.‘ Ohne zu zögern holte ich aus und schlug ihm die Faust auf die Nase. Er brach zusammen ...“

Harry Wu überstand Folter, Einzelhaft und die „Kampfversammlungen“ in der Kulturrevolution der 60er Jahre. 1979 kam er frei – nachdem er zuvor zehn Jahre lang als sogenannter „freier Gefangener“ in einer Kohlegrube in Zentralchina arbeiten mußte. Die Parteiführung hatte 1978 festgestellt, daß die „Anti-Rechts-Bewegung notwendig, aber überzogen gewesen sei“, wie man ihm später erklärte.

Bald nach seiner Entlassung stellte er einen Ausreiseantrag und konnte 1985 in die USA reisen. Dort gründete er die „Laogai (Reform durch Arbeit) Research Foundation“, die Informationen über die Lager sammelt und dokumentiert.

Eine „verzehrende Mission“ zwinge ihn, den Menschen draußen mitzuteilen, was sich hinter den Mauern der Umerziehungs- Arbeitslager abspielt, schreibt er. „Immer wieder erschienen die Gesichter derer vor mir, die ich zurückgelassen hatte. Immer wieder wurde ich von dem Gedanken geplagt, daß nur ich entkommen war, während das Arbeitslagersystem Tag um Tag, Jahr um Jahr weiterexistierte – unbemerkt, unangefochten und deshalb unverändert.“ Nach wie vor verschwinden in China unzählige Menschen in den Lagern, werden Dissidenten mundtot gemacht. Gänzlich unbemerkt aber ist das Treiben der chinesischen Behörden nicht mehr: Dank der Recherchen von Harry Wu und anderen hat die internationale Öffentlichkeit erfahren, daß China Produkte aus Sträflingsarbeit ins Ausland exportiert. Er konnte nachweisen, daß viele als zivile Fabriken ausgegebene Produktionsstätten in Wahrheit getarnte Gefängniswerkstätten sind. Die USA erließ daraufhin ein Gesetz, daß die Einfuhr solcher Produkte verbietet – Bestimmungen, die aber von chinesischer Seite immer wieder umgangen werden.

Harry Wu ist in großer Gefahr. Anders als die vielen unbekannten Dissidenten, die in den Gefängnissen und Straflagern Chinas verschwunden bleiben, ist seine Verhaftung zur außenpolitischen Belastung für die chinesischen Politiker geworden. Wenn sich der US- amerikanische Außenminister Warren Christopher heute in Brunei mit seinem chinesischen Amtskollegen trifft, will er sich für die Freilassung des US-Staatsbürgers Wu einsetzen. Ein Hoffnungsschimmer!

Harry Wu: Nur der Wind ist frei. Meine Jahre in Chinas Gulag. Ullstein, Frankfurt/M. 1994. 366 S., 39,80 Mark