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„Man muß es von der sportlichen Seite sehen“

■ Interview mit einem Alt-Punker vor dem Hauptbahnhof in Hannover zu den „Chaos-Tagen“ vom 4. bis 6. August. „Wir wollen 10.000 Verhaftungen erreichen“

taz: Warum hocken Sie mit 36 noch täglich vor dem hannoverschen Bahnhof in der Sonne?

Paul Neuschlösser: Das ist wohl der einzige Platz auf der Welt, wo wirklich noch alles scheißegal ist. Man muß keinen Eintritt bezahlen, wird nicht dauernd von Musik vollgebläht und sieht den ganzen Tag über immer neue Leute – natürlich auch solche, die man nicht gern sehen will. Der Bahnhofsplatz ist eben ein ganz gemütliches Schaufenster zur Welt.

Vor 13 Jahren waren Sie schon bei den ersten Chaos-Tagen dabei ...

Damals hatte die hannoversche Polizei begonnen, alle Punks in einer sogenannten Punker-Kartei zu erfassen. Wir hatten uns dann überlegt, mit richtig vielen Leuten nach Hannover zu kommen, die dann alle in die Kartei sollten. Damit das Ding am Ende nichts mehr wert ist. Das ganze lief unter dem Namen Chaos-Tage, wurde dann jährlich wiederholt und so zum Dauerbrenner.

Welchen Zweck haben die diesjährigen Chaos-Tage in Hannover?

Wie immer wird es ziemlich unkompliziert werden. Es geht einfach darum, da zu sein. Das reicht ja im allgemeinen ab einer bestimmten Menge Punks auch aus, um Polizei, Medien, Bürger und so weiter durchdrehen zu lassen und zu Handlungen zu verleiten, die sie hinterher schwer bereuen.

Aber man muß doch irgendetwas wollen!

Man muß es von der sportlichen Seite sehen. Man fragt sich vorher, wird die Polizei es schaffen, einigermaßen heil aus dem Ganzen herauszukommen? Kommen die Punks heil heraus? Kriegt man es hin, daß die Medien wieder einen Haufen Unsinn schreiben? Das ist immer sehr amüsant. Die Artikel kann man hinterher ausschneiden und an die Wand hängen. Für manche ist auch wichtig, wieviel Biere krieg' ich rein?

Und das immer am ersten Augustwochenende, wenn die Sonne schön sticht?

Ja, warum ist Heiligabend immer am 24.? Das erste Augustwochenende hat sich so eingebürgert. Da sind Schulferien. Da ist ein langer Samstag. Da freut man sich, daß man lange Bier holen kann.

Da ist auch der Sommerschlußverkauf ...

Da können sich die Punks auch mal ein paar billige Jeans zulegen.

Und diesmal wird Hannover wieder in „Schutt und Asche“ gelegt, wie die Zeitungen schon prognostiziert haben?

Das war eigentlich eine ganz ordentliche Meldung, die die Szene auf ein paar gute Ideen gebracht hat. Jetzt wollen ein paar Leute schon mit Schutt und Asche anreisen. Die haben schon das ganze Jahr gesammelt und wollen das Zeug nun über die ganze Stadt verteilen.

Wie erklärt sich das diesjährige Motto: „Ab ins Lager!“

Dieses Motto entspricht natürlich einem Verständnis von Humor, das nicht jeder teilen kann. Im letzten Jahr hat die Polizei die Leute massenhaft eingesackt, sie vor die Alternative „Heimfahrt oder Knast“ gestellt. Diesmal lassen wir uns lieber alle einknasten, als heimzufahren. Wir wollen einfach ins Guinness-Buch der Rekorde, wollen 10.000 Verhaftungen erreichen.

Na ja. Aber mal ernsthaft, der Punk an und für sich hat sich doch längst überlebt.

Vielleicht habe ich mich mittlerweile überlebt. Aber unter den 16-, 17jährigen sind höllisch viele Leute dazugekommen. Einerseits gibt's heute Techno, aber viele Leute haben auch ein klassisches Konzept: Schnauze aufreißen und mal was kaputtschlagen.

Mit wievielen Teilnehmern rechnen Sie?

Zu den diesjährigen Chaos-Tagen werden sich wahrscheinlich mehr Punks versammeln, als Du jemals zusammen gesehen hast. Außerdem kommen Hip-Hopper, Skins, Fußballfans von Sankt Pauli und andere Vögel.

Alt-Punker Paul Neuschlösser ist 36 Jahre alt und war schon bei den ersten Chaos-Tagen 1982 dabei. Interview: Jürgen Voges

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