Südafrika macht sich an die Vergangenheitsbewältigung: In den nächsten Wochen wird die „Wahrheits- kommission“ ihre Arbeit aufnehmen. Sie soll „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in den Jahren der Apartheid am Kap aufdecken und zur Versöhnung beitragen. Aus Johannesburg Kordula Doerfler

Guter Hoffnung auf Wahrheit

Als Christopher Ribeiro am Abend des 1. Dezember 1986 nach Hause kam, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Seine Eltern lagen erschossen vor ihrem Haus in Mamelodi bei Pretoria. Sein Vater hatte mindestens 15 Kugeln im Leib, seine Mutter einen glatten Herzschuß. Bis heute weiß Christopher Ribeiro nicht, wer den Mord geplant und durchgeführt hat. Sein Vater war Arzt. Er behandelte Menschen, die mit Schußwunden und anderen Verletzungen aus der Untersuchungshaft kamen, und ermunterte sie, Anzeige gegen die südafrikanische Polizei zu erstatten. Jahrelang wurde die Familie Ribeiro von Mitgliedern der Sicherheitskräfte verfolgt, mehrere Benzinbomben wurden nachts auf das Haus geschleudert.

Augenzeugen sagten aus, daß es sich um zwei weiße Killer gehandelt habe. Eine Kennzeichenüberprüfung ergab, daß eines der beiden am Tatort identifizierten Fahrzeuge einem Sicherheitspolizisten aus Pretoria gehörte. Eine polizeiliche Untersuchung kam zu dem Schluß, die Anwesenheit des Fahrzeuges sei purer Zufall gewesen. Fünf Tage nach dem Mord verbot der damalige Innenminister Adriaan Vlok jede weitere Veröffentlichung von Details.

Verfolgungsalltag im Apartheid-Staat (1948–90), ein Beispiel unter Tausenden. Wie in fast allen Fällen versandete auch diesmal die polizeiliche Untersuchung. Mord, Vergiftungsanschläge, Bombenattentate, Folter im berüchtigten Polizeihauptquartier von Johannesburg, hinter dessen Mauern Menschen verschwanden und am Ende „Selbstmord“ begingen – die Liste der Verbrechen ist lang. Vor allem in den achtziger Jahren war dem Rassistenregime im Kampf gegen den vermeintlichen Vormarsch des Kommunismus nach Südafrika (fast) jedes Mittel recht.

Über ein Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen macht sich Südafrika jetzt an eine gewaltige Aufgabe: Eine „Wahrheitskommission“ soll in den kommenden Wochen eingerichtet werden, um die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ während der Apartheid ans Licht zu bringen – Verbrechen sowohl der weißen Apartheid-Regierung als auch der schwarzen Befreiungsbewegungen im Kampf gegen die Apartheid. In der vergangenen Woche unterzeichnete Präsident Nelson Mandela ein Gesetz, das dafür die Grundlage schafft und um das seit einem Jahr erbittert gerungen worden war: das „Gesetz zur Nationalen Einheit und Versöhnung“.

Die Kommission wird aus maximal 17 Mitgliedern bestehen, die vom Präsidenten ernannt werden. Ihr Mandat soll sich auf einen Zeitraum von 18 Monaten erstrecken – nicht viel Zeit, um „die Wahrheit“ herauszufinden. Zu befassen hat sie sich mit allen politischen Verbrechen im Zeitraum zwischen dem 1. März 1960 – dem Tag, an dem Nelson Mandelas Afrikanischer Nationalkongreß (ANC) verboten worden war – und dem 5. Dezember 1993 – dem Tag, an dem eine Übergangsverfassung für Südafrika in Kraft trat und die alte weiße Regierung de facto durch einen gemischtrassigen Übergangsrat abgelöst wurde.

Die Kommission ist kein Vollzugsorgan und soll möglichst aus parteiunabhängigen Mitgliedern bestehen. Ihr zur Seite gestellt werden drei Komitees: eines für Amnestie, eines für politische Verbrechen und eines für Wiedergutmachung und Entschädigung (siehe auch Seite 10). Die Aussage vor der Kommission ist freiwillig. Wer aussagen will, kann Amnestie beantragen für die Verbrechen, über die er aussagen will. Den Tätern wird zugesichert, daß sie für diese Verbrechen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Allerdings kann die Kommission die Justiz einschalten, wenn es der Aufklärung dient. Bereits jetzt, so Justizminister Dullah Omar, liegen mehr als 2.000 Anträge auf Amnestie vor.

Das Gesetz, dessen Gründzüge schon in der derzeit geltenden Übergangsverfassung festgelegt sind, ist Teil von Mandelas Versöhnungsstrategie, mit der er unermüdlich die Vision eines „neuen Südafrika“ beschwört. „Jetzt ist es möglich, die Wahrheit herauszufinden, die uns so lange vorenthalten wurde“, erklärte der Präsident, prominentestes Opfer der Apartheid, bei der Unterzeichnung.

Doch mit der Wahrheitskommission leistet sich Südafrika eine schwierige Gratwanderung. In der öffentlichen Debatte spielen auch die Erfahrungen anderer Länder eine Rolle, Länder Lateinamerikas vor allem, aber auch diejenigen Deutschlands. Dabei wird weniger auf die Aufarbeitung der Stasiakten als auf die Nürnberger Prozesse verwiesen – einen Weg, den man in Südafrika ausdrücklich nicht gehen wollte.

Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes gibt es eine Vielzahl von offenen Fragen. Wer ist geeignet, Mitglied der Kommission zu werden? Was ist im Einzelfall ein politisches Verbrechen und was nicht? Wird den Opfern Genüge getan, wenn sie Einzelheiten erfahren, die Täter aber nicht strafrechtlich belangt werden? Wie kann eine angemessene Entschädigung aussehen? Wird die Suche nach Wahrheit nicht zu einer Hexenjagd und möglicherweise zu Lynchjustiz führen? Um all diese Fragen wird seit Monaten eine heftige öffentliche Debatte geführt.

So haben mehr als 30 Menschenrechtsorganisationen und die Kirchen in der vergangenen Woche an Mandela appelliert, nur Personen zu ernennen, die sich einen Ruf auf dem Gebiet der Menschenrechte erworben hätten, und deren Namen öffentlich zu machen. Organisationen, die Opfer behandeln und vertreten, monieren, daß eine reine Aufklärung den Opfern nicht hilft. Sie fordern begleitende sozialtherapeutische Programme, um Traumata zu verarbeiten. Bei weitem nicht alle Opfer oder Angehörigen von Opfern sind damit zufrieden, daß die Verbrechen nur aufgeklärt werden sollen. Die Witwe des 1977 ermordeten Führers der „Black Consciousness“-Bewegung, Steve Bikos, forderte kürzlich Gerechtigkeit: also strafrechtliche Verfolgung.

Und auch im politischen Spektrum ist die „Wahrheitskommission“ heftig umstritten. Obwohl in Südafrika weitgehend Einigkeit darüber besteht, daß die Vergangenheitsaufarbeitung immens wichtig und dieser Weg der richtige ist, haben vor allem die ehemaligen Machthaber in der Nationalen Partei, allen voran Mandelas Vorgänger de Klerk, unbequeme Enthüllungen zu fürchten.

Aber auch für Mandelas ANC wird die Stunde der Wahrheit schlagen, wenn etwa die Folter gegen vermeintliche Überläufer in den ANC-Lagern im Exil untersucht werden wird. Innenminister Buthelezi, Chef der Inkatha Freiheitspartei (IFP), lehnt die Kommission gänzlich ab, wird es doch auch darum gehen, Verbindungen seiner Partei zur „Third Force“ aufzuklären (siehe unten). Und auch die rechtsextremen Gruppierungen sind gegen die Kommission, hauptsächlich wegen des Stichtages 5. Dezember 1993; der bedeutet, daß die Bombenattentate, die die rechtsextreme „Afrikaaner Weerstandsbeweging“ (AWB) bis zur Wahl Ende April 1994 begangen hat, nicht unter das Amnestiegesetz fallen.