Ein Anti-Samurai im Bordell

Kenji Mizoguchi sah Geishas und Telefonistinnen aus der Hinterzimmer-Perspektive. Im Arsenal und im Babylon Mitte läuft eine Werkschau mit Filmen des japanischen Regisseurs.  ■ Von Dorothee Wenner

Vor ein paar Jahren galt es als geradezu verwerflich, das Leben eines Künstlers in einen Bedeutungszusammenhang mit seinem Werk zu bringen. So richtig und wichtig dieser (literatur)wissenschaftliche Einschnitt auch gewesen ist: Durch die Hintertür und damit geläutert scheint es heute wieder legitim, das eine und andere Bild/Buch oder auch einen Film vor biographischem Hintergrund zu betrachten. Wohl auch, weil sich zumindest im Umkehrschluß bewahrheitet, daß sich allzu geradlinige, zielstrebige Karrieren nicht eben positiv auf die künstlerische Produktion auswirken.

Dagegen zeigte sich das Schicksal des japanischen Regisseurs Kenji Mizoguchi (1898–1956) zumindest in der Hinsicht überaus gnädig, daß ihm wohl auch aufgrund eigener Erfahrungen zeit seines Lebens die Ideen nicht ausgingen. Sein Vater, ein gelernter Zimmermann, wollte während des Japanisch-Russischen Krieges durch Bekleidungsaufträge einen schnellen Yen machen, was jedoch mit einer Pleite endete.

Mizoguchis ältere Schwester, Suzu, wurde an ein Geisha-Haus verkauft, um die Familie finanziell unterstützen zu können. Er selbst mußte die Schule verlassen, um zunächst in einem Krankenhaus, später als Schneiderlehrling zu arbeiten. Einige Jahre lebte Mizoguchi mit Suzu zusammen, die in der Zwischenzeit nebenbei auch noch die Geliebte eines reichen Adligen geworden war. Kurz nach seinem ersten Film in eigener Regie, „Der Tag des Erwachens zur Liebe“ (1923), der wegen einer zu realistischen Darstellung der Armut nur in einer stark zensierten Fassung in die Kinos kam, wäre Mizoguchi beinahe entlassen worden: Der Grund war ein Streit mit seiner damaligen Lebensgefährtin, einer Geisha, die ihn bei der Auseinandersetzung schwer verletzte.

In den meisten Filmen Mizoguchis geht es um Frauenschicksale, genauer: um starke, eigenwillige Frauen, die unter der Fuchtel egoistischer, opportunistischer Machos in Schwierigkeiten geraten und sehr oft in Geisha-Häusern enden.

Zu den berühmtesten zählt der Film „Osaka-Elegie“ von 1936, der als der erste realistische Film Japans gilt. Die Geschichte erzählt von der jungen Telefonistin Ayako, die erst für ihren Säufer- Vater Geld herbeischaffen muß, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren, und dann auch noch vom jüngeren Bruder um die Studiengebühren angebettelt wird. Sie gerät darüber so sehr in Bedrängnis, daß nicht nur ihre eigene Liebesgeschichte mit einem Büroangestellten tragisch endet, sondern Ayako am Ende sogar von ihrer eigenen Familie verstoßen wird, weil sie als Prostituierte und Geisha gearbeitet hat.

Bis zu seinem letzten Film variiert Mizoguchi das Thema „Geisha-Schicksale“ auf unterschiedlichste Art und Weise – „Die Straße der Schande“ (1956) war sogar ein fast aktueller Beitrag zur damals heißen Debatte um käuflichen Sex: Im Mai desselben Jahres wurde der letzte Gesetzentwurf zum Prostitutionsverbot in Japan eingebracht, Mizoguchi starb fünf Monate nach der Uraufführung.

„Straße der Schande“ spielt in dem Bordell „Yume no Sato“ – „Heimat der Träume“. Dort arbeiten Yumeko, Micky, Yasumi und Hanae, die zwar aus ganz unterschiedlichen Familien stammen, aber alle dringend und schnell Geld brauchen. Ein Vater soll wegen aufgeflogener Korruption ins Gefängnis, ein Gatte ist arbeitslos, eine muß ihren Sohn versorgen...

Hier, genau wie zum Beispiel auch in „Die Schwestern von Gion“ (1936), „Zwei Geishas“ (1953) und „Das Leben der Frau Oharu“ (1952), zeichnet Mizoguchi sämtliche Männer als Figuren, die aufgrund feudaler oder kapitalistischer Sitten und Gebräuche dem Ehrenkodex der Samurai- Männer nicht mehr entsprechen.

Aber auch für den klassischen männlichen Antipoden in der japanischen Theatertradition, den hübschen „nimaine“-Softie, kann man in Mizoguchis Filmen wenig Sympathie entwickeln. Sich auf Männer zu verlassen – so kann man das Fazit vieler seiner Filme verstehen – bringt den Frauen Unglück. Wenn sie aufbegehren, gegen Konventionen verstoßen und ihren eigenen Weg gehen, verspricht das zwar auch kein Happy-End, aber zumindest Sympathie von seiten der Zuschauer.

Dazu zählen in Japan nicht zuletzt die Geishas als traditionell übereifrige Kinogängerinnen. Mizoguchi hat ihr Leben – egal in welcher Gegenwart oder historischen Epoche er seine Filme auch ansiedelte – mit geradezu obsessiver Energie studiert. Zusammen mit seinem Drehbuchautor Yoshikata Yado besuchte er zuweilen fast täglich die verschiedenen Etablissements in Gion, dem klassischen Viertel der Geisha-Häuser in Kyoto. Aufgrund der aus diesen Recherchen resultierenden Authentizität und dichten Atmosphäre der Geschichten galt Mizoguchi als Meister des japanischen Realismus.

Die extreme Sorgfalt bei der Kulissenwahl hing auch mit einem anderen Faible Mizoguchis zusammen: Er liebte lange Einstellungen, in denen die Kamera die Schauspieler von außen nach innen, von einem Zimmer ins nächste begleitete.

Im Unterschied zu dem Altmeister Yasujiro Ozu, der das Alltagsleben in seinen Filmen am liebsten aus der Froschperspektive zeigte, wählte Mizoguchi häufig die Vogelperspektive. Der japanische Filmwissenschaftler Tadao Sato sieht darin eine Anknüpfung an die Erzählweise der „emakimono“, langer vertikaler Bildrollen. „...betrachtet man die traditionelle japanische Kunst, so wird man feststellen, daß in der Malerei die Vogelperspektive vorherrscht, d.h. eine Vielzahl von Kompositionen existiert, die aus dem Blickwinkel einer mitleidsvoll Anteil an den Geschicken der Menschen nehmenden Gottheit bzw. eines Buddhas gezeichnet sind, und es hingegen kaum Darstellungen gibt, die die Dinge aus menschlicher Perspektive betrachten.“

Tatsächlich erscheinen in Mizoguchis Filmen die Geishas nicht als jene lebendigen Folklorepüppchen, wie sie etwa der dumpfe Naziregisseur Arnold Fanck 1936 in Japan während der Dreharbeiten zu seinem Film „Die Tochter des Samurai“ wahrgenommen hat: „Dank dem Sake wurde es immer lustiger und zwangloser – die kleinen Geishas unterhielten uns, auch ohne daß wir japanisch verstanden. [...] Als es gegen Mitternacht ging, holten die Geishas ein großes Grammophon – legten bekannte europäische Walzer-, Foxtrott-, Tango- und so weiter Platten auf und tanzten diese Tänze mit uns so entzückend, daß uns die Spucke wegblieb.“

Mizoguchi hat das Leben der Geishas von Kindheit an aus der entgegengesetzten Perspektive gesehen: nicht als amüsierwilliger Teehausbesucher, der sich nach getaner Arbeit mit dem Gefühl der Rechtschaffenheit an der elaborierten Dressur der Geishas erfreute, sondern aus der weiblichen Sicht des Hinterzimmers, wo die Frauen für diese Arbeit ausgebildet und tagtäglich mit unendlich langen Ankleide- und Schminkzeremonien vorbereitet wurden.

Sowohl in den einzelnen Geschichten wie auch in der filmischen Erzählweise bleibt Mizoguchi diesem quasi feministischen Standpunkt treu. Das ermöglicht einen eigenwillig nüchternen Blick in die geheimnisumwitterte Welt der Geishas, die Mizoguchi aber nie entmystifiziert, sondern als Schauplatz großer, pathetischer Kinogefühle immer wieder neu entdeckt hat.

Aufführungstermine siehe cinemataz