Das ehemalige Ghetto ist attraktiv geworden

taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 2): In der Lichtenberger Pfarrstraße hat die Sanierung der ehemals besetzten Häuser begonnen. Die einen sprechen von einer „friedlichen Lösung“, andere vom Versuch, die selbstbestimmten Freiräume zu befrieden.  ■ Von Uwe Rada

Fünf Jahre nach der Vereinigung beider Stadthälften ist Berlin noch immer eine Stadt der Ungleichzeitigkeit. Orte der rasanten Veränderung befinden sich oft in unmittelbarer Nähe zu Orten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht. In der Serie „Ortswechsel“ soll an eher unbekannten Orten diesem Reibungsverhältnis nachgespürt werden, aber auch den Ängsten und Hoffnungen derer, die den Veränderungsdruck und Stillstand aus eigener Erfahrung kennen.

„Wir sind alle zwei Jahre älter geworden“, meint Andrea Davids. Die Sprecherin der Betroffenenvertretung im Lichtenberger Sanierungsgebiet „Victoriastadt“ hat für den Wandel in der einstigen Besetzerhochburg Pfarrstraße eine griffige Formel gefunden: „Vor zwei Jahren beklagten sich Kleingärtner und Gewerbetreibende, die Hausbesetzer würden ihr Eigentum zerstören oder stehlen. Heute beklagen sich die Hausbesetzer, daß sie von Kinder- und Jugendbanden beklaut werden.“

Der Ruf ist weg. Aus den meisten Hausbesetzern von damals sind Mieter geworden. Die Pfarrstraße, lange Zeit Synonym für Straßenschlachten zwischen den Besetzern auf der linken Straßenseite und jugendlichen Rechtsradikalen gegenüber, hat ihr Gesicht verändert. Nicht mehr die alten Bewohner prägen das Straßenbild, sondern hinzugezogene Selbsthelfer und engagierte Sozialarbeiter in ebenso engagierten Sozialprojekten. Dahinter ist inzwischen das „Dienstleistungszentrum Ostkreuz“ herangewachsen – einer der größten Bürohauskomplexe Berlins auf Tuchfühlung mit jener Straße, in der es seit der Räumung der Mainzer Straße die meisten besetzten Häuser gab.

Im Lichtenberger Rathaus, beim Sanierungsträger BSM oder der Mieterberatung ASM herrscht allenthalben Zufriedenheit über die „friedliche Lösung“. Zwei Jahre lang hatte man am runden Tisch nach Möglichkeiten gesucht, durch bauliche Selbsthilfe oder öffentlich geförderte Modernisierung die Verhältnisse in der Pfarrstraße zu legalisieren. Mit Erfolg: Über 15 Millionen Mark an öffentlichen Fördergeldern sind inzwischen in die Sanierung der dreistöckigen Gründerzeithäuser geflossen. Von den 16 Häusern zwischen der Kaskelstraße im Süden und der Hauffstraße im Norden – vor der Wende zum Abriß vorgesehen und heute unter Denkmalschutz – ist nur noch bei zweien eine vertragliche Lösung nicht in Sicht. Vier Häuser sind im Selbsthilfeprogramm des Berliner Senats untergekommen. Eines davon, die Pfarrstraße 102, war besetzt, drei weitere standen leer und wurden von den Selbsthelfern von den Alteigentümern erworben. Zu den Selbsthilfehäusern gesellen sich noch vier weitere Gebäude, die derzeit im Programm soziale Stadterneuerung des Senats saniert werden. Ein Haus wurde privat modernisiert, zwei Häuser betreut die evangelische Diakonie.

Was der Lichtenberger Bezirksbürgermeister Gottfried Mucha (Bündnis 90) „Befriedung“ und „Abbau von Mißtrauen und Vorurteilen“ und die Mieterberaterin Ursula Dyckhoff „reale Hoffnung auf Wohnen, Arbeit oder Ausbildung“ und „kreatives Zusammenleben“ nennt, bereitet freilich nicht nur manchem Lichtenberger Bezirksverordneten, sondern auch vielen Altbesetzern Bauchschmerzen. Die vermeintliche „Lösung des Besetzerproblems“, nennt Marc*, einer der Bewohner der Pfarrstraße 108, den „Zwang, die eigene Abschaffung unterschreiben zu müssen“. Ein anderer ergänzt: „Vor zwei Jahren begannen die Bauarbeiten am Dienstleistungszentrum, erst dadurch wurden wir zum Problem, das dann gelöst werden mußte.“

Tatsächlich sprechen von einer Lösung in der Pfarrstraße nur diejenigen, deren Perspektive sich von vornherein auf die Alternative „private Luxusmodernisierung oder behutsame Stadterneuerung“ beschränkt hatte. Für die Selbsthelfer in der Pfarrstraße 107 mit ihren Leichtmetallbalkons, der hügeligen Hofidylle hinten und dem Anti-Drogen-Projekt „DrugStop“ an der Straßenfront gilt noch nicht einmal das. Die Gruppe Wohnungsuchender, die nach drei Jahren nun die Arbeiten an dem Haus abgeschlossen hat, gehörte nicht zu den Besetzern, sondern zu jenen, die eines der leeren Häuser gekauft haben. „Unser ursprüngliches Ziel war es“, sagt der Selbsthelfer und nunmehr in der Betroffenenvertretung engagierte Frank Weißenborn, „in erster Linie, ein Wohnprojekt zu realisieren.“ Erst später habe man gemerkt, „daß weitere Projekte sowohl uns, als auch der Straße guttun könnten“. Daß die Selbsthelfer, wie von vielen Besetzern beargwöhnt, vom einstigen Ruf der Pfarrstraße als Besetzerghetto profitiert haben, räumt auch Weißenborn ein: „Als wir das Haus 1991 für 650.000 Mark erworben haben, war dies wahrscheinlich nur möglich, weil aufgrund der besetzten Häuser keine weiteren Kaufinteressenten da waren.“

Kaum hatten die Selbsthelfer die Pfarrstraße 107 erworben, begann sich die Straße zu spalten. Auf der einen Straßenseite die Besetzer in illegalen Verhältnissen, auf der andern das Selbsthilfehaus sowie die Pfarrstraße 111, das Projekt des Lichtenberger Jugenddiakons Michael Heinisch. Anders als in Friedrichshain, Mitte oder Prenzlauer Berg war es in der Pfarrstraße nie zu Mietverträgen mit der Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg gekommen. Entsprechend groß war die Wut, als – ebenfalls 1991 – Heinisch ein Haus zur Verfügung bekam, um es mit rechtsradikalen Jugendlichen zu sanieren. Was für den Jugenddiakon der Versuch war, „Angebote für junge Menschen“ zu entwickeln, bedeutete für die meisten Besetzer, mit ansehen zu müssen, wie die ohnehin bereits abgelegene Pfarrstraße zum Anziehungspunkt für Neonazis wurde. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen schließlich und nach Fertigstellung der Bauarbeiten zogen Heinischs Schutzbefohlene aus der Pfarrstraße 111 aus. Heute wird das Haus als „Jugendwohnhaus“ für Trebekids genutzt.

Daß es in der Pfarrstraße schon länger nicht mehr zu Auseinandersetzungen mit Neonazis gekommen ist, betrachten viele der Altbesetzer als einen Erfolg, der nun auch den anderen Projekten zugute komme. Tatsächlich ist das Interesse an der Pfarrstraße groß geworden. Für viele Wohnungsuchende und Selbsthilfewillige ist der von Bahndämmen umgebene Kiez am Ostkreuz, in dem Heinrich Zille seine ersten Zeichnungen machte, die Adresse alternativer Begehrlichkeiten. Das einstige Ghetto ist attraktiv geworden – nicht nur als Wohngebiet, sondern auch als Freiluftlabor für zahlreiche Sozialprojekte. Selbst die Baulücken auf der östlichen Seite der Pfarrstraße sollen nun geschlossen werden – mit einem integrierten Projekt für Jugendliche mit Psychiatrieerfahrung. Auch Jugenddiakon Heinisch ist weiter aktiv. In der Pfarrstraße 92 will er Jugendliche handwerklich ausbilden, und in der Remise in der um die Ecke gelegenen Kaskelstraße 15 plant er ein Ausbildungsprojekt mit dem Berufsziel Koch.

„Mittlerweile“, scherzt ein Freund der Straße, „ist das Verhältnis zwischen Besetzern und Sozialarbeitern eins zu eins.“ Auf der einen Seite, fügt Marc hinzu, entstehe das Dienstleistungszentrum Ostkreuz, auf der andern das Sozialleistungszentrum Pfarrstraße. „Damit wird im Grunde alles entpolitisiert“, schimpft der Ex-Besetzer: „Kaum hast du dich politisch geäußert, bist du für die Sozialarbeiter und Befriedungsstrategen ein Fall für die Therapie.“ Hinzu komme die „neue Schrebergartenmentalität mit dem Wunsch nach behutsam sanierten Häusern, einem behutsamen Zusammenleben und der behutsamen Wiederherstellung des historischen Kanals, des ,Kuhgrabens‘“.

Mieterberaterin Dyckhoff will sich ihre Lösung freilich nicht zerreden lassen: „Wenn wir das nicht geschafft hätten, wären die Häuser wie in der Mainzer Straße geräumt und anschließend luxusmodernisiert worden.“ Die Sanierung sieht Dyckhoff auch als Chance: „Gerade die Jugendlichen und Trebekids müssen lernen, sich selbständig auf Ämtern Gehör zu verschaffen.“ Gleichwohl räumt die Mieterberaterin ein, daß der „neue Straßenkonsens“ auch das Ergebnis einer Veränderung in der Bewohnerschaft ist. „Manche ehemaligen Besetzer“, sagt sie, „sind ausgezogen, um ihren Traum vom ungebundenen Leben andernorts zu realisieren.“

Paul* ist dennoch geblieben, wie Marc in der Pfarrstraße 108, einem Haus, das derzeit im Programm „soziale Stadterneuerung“ modernisiert wird. Seinen Traum vom selbstbestimmten Leben will er trotzdem nicht aufgeben. Doch die Umstände sind widrig geworden: „Wenn wir aus unseren Umsetzwohnungen zurückkommen, müssen wir zwölf Mark pro Quadratmeter für einen goldenen Käfig zahlen.“ – „Der ,Straßenkonsens‘, von dem jetzt so oft die Rede ist, ist uns aufgedrängt worden“, meint auch Marc: „Viele machen mit, weil sie mittlerweile keine andere Wahl mehr haben, andere haben plötzlich etwas zu verlieren, und wieder andere nennen das dann Konsens.“

Als politische oder persönliche Niederlage wollen Marc und Paul die Sanierung dennoch nicht verstanden wissen, eher als Prozeß mit offenem Ausgang, bei dem die meisten erst mit der Zeit merken, was da auf sie zukommt. Wer die Spielregeln für die „friedliche Lösung“ diktiert hat, ist für die Altbesetzer allerdings unstrittig. „Je näher diese gläsernen Bürohäuser an die Pfarrstraße kamen, desto mehr Räume wurden uns genommen.“

Tatsächlich gibt sich die Investorengruppe JSK mit der bisherigen Dimension des „Dienstleistungszentrums Ostkreuz“ nicht zufrieden. Neben der Sanierung des ehemaligen Knorr-Bremse- Werks in der Hirschberger Straße hat JSK an der Neuen Bahnhofstraße eine riesige Bürolandschaft auf den Sand gesetzt. Geplant sind außerdem ein weiterer Bürokomplex an der Hirschberger Ecke Krummhübler Straße sowie die Bebauung der auf der Rückseite der Pfarrstraßenhäuser gelegenen Brache. „Der Zugriff auf den Kiez“, sagt einer der Besetzer, „geht so weit, daß die sich sogar bereit erklärt haben, die Fahrbahn der Pfarrstraße und Kaskelstraße mit privaten Mitteln zu finanzieren.“

Mieterberaterin Dyckhoff will das Feindbild JSK allerdings nicht mehr gelten lassen: „Vor drei Jahren haben die tatsächlich versucht, die ganze Straße zu kaufen und die Häuser teilweise illegal zu räumen.“ Heute freilich spiele die JSK mit zwei Häusern in der Straße keine große Rolle mehr, sagt Dyckhoff, die sich immer wieder darum bemüht hatte, kaufwillige Interessenten mit verkaufswilligen Alteigentümern an einen Tisch zu bringen. Dyckhoff glaubt vielmehr, daß sich mit der vertraglichen Lösung diejenigen mit dem „höchsten Schwärzegrad der Anarchie“ in die noch immer nicht legalisierten Häuser zurückgezogen und sich überdies vom Straßenkonsens verabschiedet hätten.

Friedliche Lösung oder Befriedung – für eine Gruppe von Besetzern, die vor fünf Jahren von Moskau nach Berlin kam, spielt diese Frage eine untergeordnete Rolle. Ihnen geht es vielmehr darum, zu überlegen, wie sie auch nach der Sanierung selbstbestimmt leben können. „Als wir 1990 im russischen Fernsehen eine Reportage über die Räumung der Mainzer Straße gesehen haben“, meint Helena*, „haben wir uns gesagt, wir müssen nach Berlin.“ Zu zwanzigst haben sie sich damals auf den Weg gemacht. Sieben von ihnen sind geblieben und haben in der Pfarrstraße, wie sie es sagen, „ein Zuhause“ gefunden. „Für uns ist das Leben in besetzten Häusern nicht nur eine subjektive Erfahrung, sondern auch eine Schule der Demokratie“, sagt der 24jährige Sergeij*. „Man lernt, sich mit andern auseinanderzusetzen und zu formulieren, was man selbst will.“

Ein Prozeß, der freilich auch mit den deutschen Besetzern nicht immer reibungslos verlief. „Das war eine schwierige Zeit“, sagt Helena. „Am Anfang mußten wir, weil das eben so Sitte war, stundenlang auf den Plena verbringen, obwohl wir kein Wort verstanden haben.“ Am komischsten findet sie die Geschichte, wie sie sich von den deutschen Besetzern erklären lassen mußte, daß es sexistisch sei, sich schön anzuziehen.

Daß sich das Leben in der Straße nach der Sanierung ändern wird, glauben auch die Moskauer Ex-Besetzer. Dennoch haben auch sie sich für Verträge stark gemacht. „Die Häuser müssen repariert werden“, sagt Sergeij, und Helena ergänzt: „Auch wenn einige das nicht brauchen: Wir brauchen warmes Wasser.“ Der Zukunft sehen sie mit einer gewissen Gelassenheit entgegen. „Nicht hinter jeder verputzten Fassade verbirgt sich Phantasielosigkeit“, meint Helena. „Und wenn heute alle sagen, daß fünf Jahre nach der Euphorie im Osten sich nunmehr alles um Geld dreht, sage ich denen, sie sollen mal nach Moskau. Verglichen mit der Diktatur des Geldes dort, ist das Leben in Ostberlin noch immer ein Stück Sozialismus.“

* Namen von der Redaktion geändert

Am nächsten Donnerstag: Die Friedrichstraße – Wohnen zwischen Büros