Springers Kopfjäger belagern Erich Mielke

■ Fotografen vor Mielkes Wohnung / Ehemaliger Stasi-Chef ist wahrscheinlich „im Kreise seiner Familie“

Der Klassenfeind kennt kein Erbarmen: zwei Fotografen der Bild-Zeitung observieren seit Dienstag abend das fünfzehnstöckige Hochhaus in Hohenschönhausen, wo sich der ehemalige Stasi-Chef Erich Mielke in der Wohnung seiner Frau Gertrud aufhalten soll. Mit Objektiven, die ohne Fahrstuhl kaum in den vierten Stock zu transportieren sind, harren die „IM's“ der Springerpresse seit über 24 Stunden in der realsozialistischen Plattenbauidylle aus, wo sich weder Mieter noch Anwohner für die „alte Geschichte“ interessieren. Auch wenn die Bild-Observierer weder Mielke noch seinen dunkelbraunen Lederhut erspäht haben, hätten sie heute trotzdem eine „tolle Geschichte“, verkünden sie: „Trudchen haben wir!“

Genaue Angaben über den derzeitigen Aufenthaltsort des 88jährigen gibt es bislang nicht. Sowohl Mielkes Anwälte als auch Justiz und Polizei schweigen. Nachdem das Landgericht am Freitag entschieden hatte, daß Mielke, der wegen des Doppelmordes an zwei Polizisten von 1931 zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe zu entlassen sei, öffneten sich am Dienstag abend überraschend die Gefängnistore. Der ehemalige Geheimdienstchef wurde vorzeitig nach Hause geschickt, um seine Sicherheit zu gewährleisten und wilde Verfolgungsjagden durch Journalisten zu vermeiden. Das Gericht, so Justizsprecher Rüdiger Reiff, habe wegen Mielkes hohen Alters auf einen Bewährungshelfer verzichtet. Da gegen Mielke kein Haftbefehl mehr bestehe, könne er sich frei bewegen. Derzeit stehe nur noch die Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus, ob die Einstellung des Verfahrens im Maueropferprozeß gegen den Ex-Stasi-Chef rechtens war.

Der Sprecher des „Solidaritätskomitees für die Opfer der Politischen Verfolgung in Deutschland“, Klaus Feske, geht davon aus, daß Mielke „im Kreise seiner Familie“ ist. „Glauben Sie, daß eine Frau, die ihren Mann regelmäßig im Gefängnis besucht hat, nichts mehr von ihm wissen will?“ widersprach er Darstellungen der Springerpresse, wonach Gertrud Mielke ihrem Mann den Zugang zum trauten Heim verweigere. Er selbst habe Mielke letzten Dienstag hinter Gittern besucht. Er habe zwar einen „verwirrten Eindruck“ gemacht. Doch trotzdem habe er sich für „Tagespolitik“ interessiert.

Der Presserummel vor der Haustür interessiert Mielkes Nachbarn und die Anwohner herzlich wenig. Eine Frau im Fahrstuhl will eine Familie Mielke nicht einmal kennen. Die Verkäuferin im Getränkestützpunkt im Erdgeschoß kann nur den Kopf schütteln über das Medieninteresse. „Weswegen er angeklagt war, das war doch ein Witz“, sagte sie. „Das interessiert hier keinen.“ Ein Kunde im Laden fügte hinzu: „Das hat keine Bedeutung mehr.“ Nur eine ältere Frau vor der Haustür sagt: „Es ist gut, daß wenigstens einer zur Rechenschaft gezogen wurde.“ Barbara Bollwahn