■ Debatte
: Lebenserfahrungen eines Pazifisten

Der Streit um die Bosnienfrage hat die taz-Leserbriefspalten der letzten Wochen ziemlich gefüllt. Wir hoffen, daß die Debatte so engagiert weitergeht. Ein wesentlicher Aspekt des Streits ist die Frage, ob der Pazifismus angesichts des Mordens auf dem Balkan noch lebenstauglich ist. Am Mittwoch erschien dazu der Debattenbeitrag „Pazifistische Lebenslügen“ von Klaus Jarchow. Heute antwortet der engagierte Pazifist Rudolf Prahm.

Kriege entstehen in den Herzen und Köpfen von Menschen, bevor sie auf Kriegschauplätzen beschaut werden können. Sie werden so intensiv vorbereitet, daß die betroffenen Menschen nicht in dem Augenblick vor einem Waffengang zurückschrecken, wenn aus dem Waffenstillstand die Mobilmachung wird. Solcher Mobilmachung von Soldaten mit ihrer Kriegsausrüstung in bestimmten Bereitstellungsräumen geht eine geistige Mobilmachung voraus. Sie wird von Redakteuren, Schriftstellern, Leserbriefschreibern u.a. geleistet und findet aus eben diesen Kreisen auch ihren Widerspruch. Ein solcher Widerspruch muß aber aus der Sicht des Staates bis zur Unwirksamkeit bekämpft werden.

So sagten z.B. die Befürworter der Notstandsgesetzgebung schon 1968: „Die Vorausverrechtlichung des Mitmachmüssens in einem Verteidigungsfalle muß so perfekt sein, daß in dem Augenblick, wenn die Bevölkerung merkt, daß die Zeichen wirklich auf Krieg stehen, es für ein politisches Gegenhandeln zu spät sein muß. Wer dann dagegen angehen wird, muß gleichzeitig gegen die Verfassung verstoßen. Das werden die meisten nicht wollen. Darum gehört die Notstandsverfassung ins Grundgesetz.“

Da kann man nicht einfach NEIN sagen, wie Wolfgang Borchert uns empfohlen hat. Da muß man von den Fahnen gehen, wie es Hunderttausende junger Jugoslawen im gegenwärtigen Balkankrieg auf kroatischer, bosnischer und serbischer Seite getan haben. Sie wollten sich nicht von Politikern, die an Konferenztischen gescheitert waren, in Schlachtenfeuer schicken lassen.

Für Menschen, die in Kriegsgebieten den Leiden der Kämpfe und Unterdrückung ausgesetzt sind, die die entstehenden Opfer über Monate und Jahre ertragen, muß es eine oberste Idee geben, eine tragende Idee, die über allem Leid steht, für die es sich lohnt, sich so einzusetzen. Solch eine verpflichtende Idee kann entweder aus Religionsgemeinschaft kommen oder aus der national-ethnischen Volkszugehörigkeit. Da ist es dann die Idee vom eigenen Vaterland.

Vaterländer sind undemokratische und blutige Autoritäten, unmenschlich anonym. Vaterländer stehen nebeneinander oder gegeneinander. Sie bedingen ihre Existenz gegenseitig, getragen von Männern, die ihr jeweiliges Vaterland verehren, besingen, verherrlichen, ihm alles erlauben, was mit Fahnen und Orden, mit Schießen und Morden, mit Männerüberlegenheit und Unterwürfigkeit zu tun hat. Jahrelang – ein Leben lang können Menschen der fixen Idee anhängen, fürs Vaterland alles zu opfern, was es fordert: Ihre Söhne und Väter, Brüder und Freunde, Ehemänner und Bekannte. Sie geben dem Vaterland (wem sonst?) Gold und Kirchenglocken, nehmen Hypotheken auf und zeichnen Kriegsanleihen – schon zu Zeiten, wo manchem der gesunde Menschenverstand sagt, daß das alles nur ins Unheil führt, in die Staatspleite und in Massengräbern zwischen den Trümmern ihrer Häuser enden wird. Dennoch lassen sich Menschen zusammenholen, alarmieren und mobilisieren, um ja keine Vaterlandsverräter zu sein.

Die Frage, ob deutsche Soldaten auf dem Balkan eingesetzt werden sollen, kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung im 2. Weltkrieg mit einem klaren NEIN beantworten. Ich bin als Infanteriesoldat mit der Erkenntnis heimgekehrt, daß es am Arbeitsplatz „Schützengraben“ kein Kündigungsrecht gibt. Wohin man auch geschickt wird, nach Frankreich, Polen, Rußland oder sonstwohin – eine selbstbestimmte oder mitbestimmte Rückkehr gibt es nicht. Darum war eines meiner pädagogischen und politischen Ziele – 1946, als wir in Bremen einen „Senator zur politischen Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ hatten, mich dafür einzusetzen, daß niemand gegen seinen Willen gezwungen werden kann, auf Befehl und Gehorsam militärisch funktionieren zu müssen. Wer sich selbst diese Achtung vor der persönlichen Freiheit und Freizügigkeit mündiger Bürger abverlangt, schickt keine Menschen.

Ich habe meine Söhne nicht ins Studium, in ihre Ausbildung geschickt, meine Tochter nicht in ihre Ehe, und ich schicke auch meine Frau nicht zum Schlachter, um mir ein Kotelett zu kaufen. Und darum denke ich erst recht nicht daran, die Söhne anderer Eltern zu schicken oder schicken zu lassen – vielleicht auf Kriegsschauplätze, die später auf dem Bildschirm erscheinen und uns ein General wie Norman Schwarzkopf im Golfkrieg das Ausmaß der Zerstörung erklärt. Und wir sitzen bei ARD und ZDF in der ersten Reihe und schauen dem „war theatre“ – wie es die amerikaner nennen – zu. Lange sitze ich in solchen Lebenssituationen nicht still. Dann stehe ich auf und organisiere Widerstand, allein oder mit anderen.

Beispiel: Als im Herbst 1990 in Bremen bekannt wurde, daß auch die US-Soldaten aus Garlstedt nach Saudi-Arabien verlegt werden sollten, und weiter bekannt wurde, daß eine Anzahl von GI's das nicht wollten, als sie den Auftrag bekamen, ihr Testament zu schreiben, habe ich mit anderen Bürgerinnen und Bürgern in Zusammenarbeit mit Menschen der amerikanischen Friedensbewegung erreicht, daß diejenigen GI's aus Garlstedt, die nicht mit in den „Wüstensturm“ ziehen wollten und deren Lebenspartnerinnen nicht in einigen Monaten Witwe sein wollten, ihre Anträge auf Kriegsdienstverweigerung stellen konnten.

Wenn die Zeichen der Zeit im Augenblick heißen: „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen“, so bleibe ich meiner Erfahrung treu, daß meine Aufgabe in dieser Situation darin besteht, junge Männer, die man für Militäreinsätze erfaßt, die aber nicht ergriffen werden möchten, zu beraten.

Vor 81 Jahren begann der 1. Weltkrieg. Wenn heute Wilhelm II. noch einmal vor sein Volk treten könnte, würde er vielleicht sagen: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch NATO-Deutsche!“ Dann würde ich ihm sagen: „Mein lieber Kaiser, es hat sich inzwischen einiges geändert in Deutschland. Der Begriff „Vaterland“ steht nicht im Grundgesetz und auch nicht im Soldatengesetz. Warum sollte man also das eigene Leben und das anderer Weltbürger dafür riskieren?“ Rudolf Prahm