Wand und Boden
: Die Kunst verschwindet überall

■ Kunst in Berlin jetzt: Wrede, Monden, Grossarth, Leuner und Kirchner

In der Galerie Andreas Weiss empfiehlt es sich, im Schneidersitz auf den Boden zu gehen. So läßt sich ein Text lesen, der in einem an die Wand gelehnten Alurahmen steckt. Von Erhard Mondens angekündigten 11 Konzeptions(zeichnungen) für sozialplastische Arbeiten ansonsten keine Spur. Am Eröffnungsabend, so der Galerist, waren sie für eine Stunde zu sehen; im gleichen Alurahmen, über negativ und positiv gepolte Starterkabel mit einem TV-Monitor verbunden; dann kam der Künstler, verfrachtete sie ins Auto und fuhr mit ihnen davon, in die Dimitroffstraße, wo sie jetzt ausgestellt sind. Statt dessen gibt es bei Weiss Gelegenheit für einen Blick auf Thomas Wredes Fotoarbeiten. „Cadavre exquis“ zeigt einen in durchscheinende Folie verpackten Gegenstand, der achtmal gedreht, gekontert, gewendet und zusammengefügt das Bild eines Torsos zu ergeben scheint. Einmal scheint er weit auszuschreiten, das andere Mal erinnert er eher an plastikverschweißtes Fleisch aus der Tiefkühltruhe. Grausige Bildphantasien, an denen man selbst schuld ist. Muß man immer Formen sehen in der Abstraktion? Man muß, sagt zuletzt die Wahrnehmungsforschung. Auf „Vögel stehen in der Luft und schreien“ sind lediglich Staubabdrucke zu sehen, die Vögel an den Fensterscheiben hinterlassen, auf die sie geprallt sind: enorm dynamische, rätselhafte aufblitzende Formen, weiß auf tiefstem Schwarz.

In der Dimitroffstraße dann findet man sich in Erhard Mondens „Schule für erweiterte bildnerische Arbeit“ wieder, 1985 noch zu DDR-Zeiten gegründet. Joseph Beuys stand ideell Pate. Die Mitarbeiter der hier initiierten sozialplastischen Kunstprozesse – Teilnehmer eines zehnmonatigen Projektes – erfahren durch den Künstler zunächst einen scheinbar herkömmlich-didaktischen Kurs für bildnerisches Gestalten; parallel dazu erfolgt die Begriffsarbeit als Diskussion, in der die Arbeit auf der Bildfläche als vorläufiger Schritt der Arbeit am gesellschaftlichen Organismus reflektiert wird. Das Selbstverständnis des Künstlers und seiner Schule als Katalysator einer behinderten Öffentlichkeit kann nach dem Mauerfall aber nicht mehr gelten. Zwar ist die Galerie sozusagen naturgemäß der Anti-Ort zu Mondens „Kunst als Freiheitswissenschaft“, dennoch ist sie ein Ort relevanter öffentlicher Kunstsignale. Daher der Schritt dahin, um dann wegzugehen.

Bis 18. 8., Leibnizstraße 45 und Dimitroffstraße 197, Di., Do., Fr. 14–19, Mi. 15–20, Sa. 11–15 Uhr

Monden, der ehemalige Leistungssportboxer, bringt den Kunstfreund in Bewegung. Ulrike Grossarth, als Tänzerin ausgebildet, arbeitet mit der Eigenbewegtheit des menschlichen Körpers. Seine Bewegung ordnet und organisiert die Welt, unterwirft deren Form aber einem ständigen Wandel und Wechsel. Grossarths Ausgangsmaterial in den Kunstwerken sind Fotografien, ein Warenblock, ein Hinterglas- und ein Wellenbild. Der erste Fotorahmen zeigt vier Bilder eines Parks; der zweite Menschen in einem nüchternen Raum, zwischen Stühlen und Tischen. Jedes Bild hat vier ausgestochene Kreise, in denen offenkundig fremdes Bildmaterial steckt, wie falsch arrangierte Puzzles. Die Intarsienarbeit führt die Natur des einen Bildkomplexes in die Kultur des anderen ein und umgekehrt; die lange Dauer der Natur in die kurze Zeit der menschlichen Bewegung. Deren Zeitmessung steckt als Wecker im Warenblock, in dem alle möglichen Dinge des alltäglichen Lebens gleichberechtigt neben- und aufeinandergestapelt sind, als horizontale Gegenstandsbänder im vertikal hochragenden Kubus. Horizontale und Vertikale thematisiert auch das Wellenbild. Die Alchimistin auf dem Hinterglasbild hat nicht nur einen rechten, sondern darüber hinaus zwei linke Arme. Diese agieren völlig parallel, wie wir es prinzipiell auch mit unseren zwei Armen tun können. Daraus resultieren meist nur wunderschöne poetische Gesten, kaum ein instrumenteller Zugriff. Die Alchimistin hat uns da Wissen voraus. Was aber auch Nachteile bringt: Nach der Präsentation, die leider nur einen Tag andauerte, kann man sich nur mehr per Katalog in ihre Ideenwelt vertiefen.

Katalog über Kunst-Werke, Auguststraße 69, erhältlich

Wie findet man mit drei Armen seine Mitte? Thomas Leuner versucht es mit drei Augen. Die Schärfeneinstellung seines Kameraobjektivs liegt in der Mitte der jeweiligen Szenerie, die er im Sucher hat. Die wiederum spielt immer in Berlin-Mitte. Sein Projekt sowie das von André Kirchner bilden den zweiten Teil der dreiteiligen Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst „Vom Umgang mit Veränderung“. Sie will die Wahrnehmung des Stadtumbaus durch die Berliner Fotoszene vorstellen. In der „Mitte“ agieren also bei Leuner „Die Bürgerrechtlerin“, Bärbel Bohley hinter einem Mikrofon; „In der Menge“ erkennt man Regine Hildebrandt; ein anonymer „Pfeifender“ gibt seinen Protest zu erkennen; farbstichig verfremdet gibt sich jedes Foto als eine Bühne aus, auf der das Drama von der „Suche nach Identität“ gegeben wird. Ausgehend vom ehemaligen Grenzkontrollpunkt Dreilinden, umkreist André Kirchner im Uhrzeigersinn den „Stadtrand Berlin 1993“, um bei der Glienicker Brücke in Potsdam zu enden. Der Blick von außen nach innen erfaßt Wohnwagensiedlungen, ein altes Schlachtfeld mit Pyramidendenkmal – wer weiß bei den vielen Kriegen der Preußen, um welche Schlacht es damals ging –, kronenlose Baumstümpfe entlang einer Allee, Grenzanlagen, Neubauruinen. Auf seinen Fotos mit ihren äußerst differenzierten Grauwerten signalisieren weiße Hochhaussäume in weiter Ferne die große Stadt. Sie wird sich gerade hier an den Rändern verändern, aber in dieser weißen, vorhersehbaren Form.

Bis 29. 8., tägl. 12–18.30 Uhr, Oranienstraße 25 Brigitte Werneburg