Eine Bombe gegen die Sowjetunion?

■ Hätte Japan ohnehin bald kapituliert? Der Historiker Gar Alperovitz zerstört die strategischen Mythen um die Bombe

Der Mythos hält sich seit fünfzig Jahren: „Das atomare Inferno von Hiroshima und Nagasaki war notwendig, um den Tod von einer Viertelmillion, vielleicht sogar einer Million US-amerikanischer Soldaten zu verhindern.“ Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die offizielle Version der US-Regierung von einzelnen Historikern widerlegt wurde, bestimmt sie weiterhin das öffentliche Meinungsbild. Daß im Jahre 1990 noch immer 53 Prozent der US-Amerikaner den Abwurf der Bomben für richtig hielten, ist für den Historiker Gar Alperovitz das Ergebnis „großangelegter Täuschungsmanöver“ und der „Weigerung, Informationen zugänglich zu machen, die das Gegenteil beweisen“.

In seinem neuen, vergangene Woche in den USA herausgegebenen Buch „The Decision to Use the Atomic Bomb“, das im Oktober unter dem Titel „Hiroshima – Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe“ auch als deutsche Ausgabe erscheint, zerlegt der Washingtoner Historiker den Mythos von der kriegsentscheidenden Bombe und zeigt anhand zahlreicher, inzwischen zugänglicher Dokumente die Entscheidungsprozesse und die wahren Gründen für den Einsatz der Atombomben auf. Wie bei einem Puzzlespiel fügt Alperovitz die Teile zusammen und gibt eine Antwort auf die entscheidende Frage, „ob vor dem Einsatz der Atombombe klar war, daß der Krieg gegen Japan mit anderen Mitteln, ohne viele Menschenleben zu fordern, beendet werden konnte“.

In seiner Dissertation aus dem Jahre 1965 vertrat Alperovitz bereits die These, daß mit Hiroshima und Nagasaki nicht die Japaner in die Knie gezwungen werden sollten, sondern daß es darum ging, die Sowjetunion gefügiger zu machen. Aus zahlreichen neuen Quellen kann Alperovitz jetzt seine Vermutung belegen.

Dem damaligen US-Präsidenten Harry Truman lagen schon Wochen vor dem Einsatz der Atombombe Informationen vor, daß die Kapitulation Japans nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Sowjetunion hatte das Neutralitätsabkommen mit Japan aufgekündigt und stand kurz davor, dem Kaiserreich offiziell den Krieg zu erklären. Zudem hatte Washington nicht nur sehr gute Informationen über die darniederliegende Wirtschaft in Japan, auch die japanischen Mittelsmänner, die als „Friedensfühler“ in der Schweiz, Portugal und dem Vatikan auftraten, wurden aufmerksam registriert. Noch war man sich nicht sicher, ob auch der Kaiser Hirohito Friedenskontakte wünschte.

Die brisanteste Meldung fing dann der US-Geheimdienst am 12. Juli ab: Hirohito selbst beauftragte einen „persönlichen Abgesandten“, der in Moskau über die Beilegung des Konfliktes verhandeln sollte. Das wesentliche Hindernis, das einem Friedensschluß im Wege stehe, sei, so hieß es in dem abgefangenen Telegramm weiter: „Solange England und die Vereinigten Staaten auf einer bedingungslosen Kapitulation beharren, hat das japanische Kaiserreich keine andere Möglichkeit, als mit all seiner Kraft weiterzukämpfen.“ Zu diesem Zeitpunkt schon hätte Truman, so vermutet Alperovitz, in Friedensverhandlungen eintreten können und vielleicht sogar den Krieg mit Japan viel früher beenden können – ohne die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Truman und sein persönlicher Vertrauter James F. Byrnes, der wenige Wochen vor Kriegsende das Amt des Außenministers übernahm, wußten, daß für Japan eine Kapitulation nur in Frage kam, wenn Kaiser Hirohito auf seinem Thron bleiben durfte. Auch Trumans Militärexperten rieten dazu, den Kaiser im Amt zu lassen. Denn nur mit seiner Autorität könne nach der Besetzung Japans ein Chaos verhindert werden, nur er könne die Einstellung aller Kampfmaßnahmen sicherstellen. So ist es dann auch später geschehen: Hirohito blieb bis 1989 auf dem Kaiserthron.

Truman jedoch verfolgte andere Pläne. Er hatte nach Ansicht von Alperovitz gar kein Interesse mehr daran, die Kampfhandlungen mit Japan möglichst schnell einzustellen. Ganz im Gegenteil, so die Schlußfolgergung des Washingtoner Historikers, befürchtete der US-Präsident vielmehr, daß der Krieg zu Ende ging, ohne daß sein verdeckte Karte, die Atombombe, zum Einsatz kommen konnte.

Entgegen dem Rat seiner „zivilen und militärischen Spitzenberater“ verweigerte Truman eine Sicherheitsgarantie für den Kaiser; selbst Churchill und die militärische Führung Großbritanniens forderten erfolglos eine Klarstellung ein. Auf dem Potsdamer Dreiergipfel mit Stalin und Churchill beharrte der US-Präsident auf die mißverständliche Formulierung in den Kapitulationsbedingungen: „Dies schließt eine konstitutionelle Monarchie unter der gegenwärtigen Dynastie nicht aus.“ Sein einziges Ziel war, so vermutet Alperowitz, die Kapitulation Japans so lange hinauszuschieben, bis die Bomben bereit waren.

Seit Truman am 16. Juli auf dem Dreiergipfel in Potsdam die Nachricht von dem erfolgreich verlaufendem Test der ersten Atombombenexplosion erhalten hatte, mußte er auf die Sowjetunion keine Rücksicht mehr nehmen. Solange die Superbombe nur auf dem Papier stand, brauchte er die Rote Armee als Rückversicherung: Die Sowjetunion sollte die Japaner vom asiatischen Festland vertreiben. Nachdem aber feststand, daß die Bombe funktionierte, war sich Trumann der militärischen Vormachtstellung sicher: Die USA waren jetzt nicht nur in der Lage, die Japaner allein zur Kapitulation zu zwingen, sondern auch gegenüber der Sowjetunion mit ganz anderen Ansprüchen aufzutreten. Die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, so Alperovitz Schlußfolgerung, war von Truman nur als Machtdemonstration gegenüber der Sowjetunion gedacht. Sollte Alperovitz mit seiner These recht haben, dann wäre Truman nicht nur für die mehr als 200.000 Atomopfer verantwortlich, sondern auch für die etwa 5.000 US-Soldaten die noch bis zur endgültigen Kapitulation Japans bei Kriegshandlungen umkamen. Wolfgang Löhr

Gar Alperovitz: „Hiroshima – Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe“. Hamburger Edition. HIS Verlag, Mittelweg 36, 20148 Hamburg, ca. 770 Seiten, 78 Mark, erscheint im Oktober 1995