Das Leiden war stärker als Haß

■ Wie kann man nach Hiroshima Gedichte schreiben? Die japanische Lyrikerin Sadako Kurihara, 82, erlebte den Bombenabwurf auf die Stadt aus nächster Nähe. Sie ist die wichtigste überlebende Vertreterin der "Ato

taz: Im Januar dieses Jahres fanden die Feierlichkeiten zur Befreiung von Auschwitz in Anwesenheit von Elie Wiesel, dem polnischen Präsidenten Lech Walesa und hohen Würdenträgern aus aller Welt statt. Stört es Sie, daß in Hiroshima am 50. Jahrestag der Atombombenabwürfe die hohen Gäste aus aller Welt weiterhin fehlen?

Sadako Kurihara: Immerhin gibt es amerikanische Bürger, die jährlich am 6. und 9. August kleine Gedenkveranstaltungen organisieren. Für mich ist wichtig, daß auch in Amerika einige Leute Hiroshima und Nagasaki nicht vergessen, obwohl ihre Regierung die Atombombenabwürfe immer noch rechtfertigt.

Zwischen Auschwitz und Hiroshima gab es den Unterschied, daß man die Täter von Auschwitz sehen und erfassen konnte, während Hiroshima und Nagasaki passierten, indem ein Mann einen Knopf drückte. Der Gegner blieb für uns also unsichtbar. Anschließend betrachteten viele Japaner die Atombombenabwürfe wie Naturkatastrophen. Aber auch die Täter sahen die Folgen ihrer Taten nicht. Sie sahen nicht, wie wir in Hiroshima litten. So blieb vielen Amerikanern nur ihr Stolz – und keinerlei Schuldgefühl.

War die japanische Literatur nach 1945 von dem gleichen Problem betroffen: Litt sie an einem unsichtbaren Gegner?

Nein. Für die von der Atombombe direkt betroffenen Autoren waren die Leiden so extrem gewesen, daß der Anlaß zum Schreiben über den Haß hinaus ging und von Anfang an die Botschaft enthielt: So etwas darf nie wieder passieren. In seinem Hiroshima-Tagebuch „Der Mann über der Brücke“ beschreibt Günther Anders dieses Phänomen: Menschen, die nicht hassen, obwohl es natürlich gewesen wäre, das zu hassen, was den Haß verdient.

War dieser Ausgangspunkt für die Literatur anderswo nachvollziehbar?

Adorno sagte, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch. Diese Kritik traf natürlich auch diejenigen, die über die Atombombe schrieben. Der psychische Druck, der auf uns lastete, war enorm. Yoko Ota, die als Begründerin der Atombombenliteratur gilt, mußte immer wieder Blut spucken, während sie schrieb. Als Ota am 7. August 1945 – also einen Tag nach dem Atombombenabwurf – mit ihrer Schwester in Hiroshima unterwegs war, starrte sie die Leichenberge so lange an, bis ihre Schwester sie fragte: „Wie kannst du dort hingucken? Der Anblick ist unerträglich.“ Doch Ota entgegnete, daß sie die Leichen mit den Augen einer Schriftstellerin betrachte, die über den schrecklichen Anblick in ihrem Werk Rechenschaft geben müsse. Otas Buch erschien dann aufgrund der Zensur der amerikanischen Behörden erst im November 1948. Später wurde sie irgendwann neurotisch.

Ihnen und Ota wird vorgeworfen, von dem Thema der Atombombe nie losgekommen zu sein.

Bei dieser Debatte denke ich immer wieder an Jean-Paul Sartre, der in den sechziger Jahren nach Hiroshima kam und beobachtete, wie die meisten Atombombenopfer ohne Sozialversicherung gesellschaft wie politisch von den anderen im Stich gelassen wurden. Sarte glaubte, wir würden wie Paria behandelt werden.

In den japanischen Literaturkreisen begegnete den Atombombenautoren eine ähnliche Diskrimierung schon seit den fünfziger Jahren. Uns wurde vorgeschlagen, die Atombombe, die nun schon mehrere Jahre zurücklag, aufzugeben und statt dessen über die Liebe zwischen Frau und Mann zu schreiben. In den sechziger Jahren fand die Diskussion unter Beteiligung einiger Atombombenopfer statt, die selbst glaubten, die Atombombe sei ein politisches Problem und keine Aufgabenstellung der Literatur. Im Kontext dieser immer wiederkehrenden Kritik war es von Anfang an schwierig, Bücher zur Atombombe überhaupt erscheinen zu lassen.

Glauben Sie, daß die Atombombenliteratur den jungen Lesern heute noch vermitteln kann, was in Hiroshima geschah?

Wer wirklich lesen will, für den gibt es genug Bücher. Tamiki Hara, Sankichi Toge und Yoko Ota zählen für mich zu den Autoren, die die Tragik des 6. August beschrieben haben. Die wirkliche Frage ist, wie es mit der Atombombenliteratur weitergeht. Heute vermutet man, daß es in der Welt 18 Millionen Strahlenopfer gibt, von den Arbeitern in Atomfabriken bis zu den Inselbewohnern im Pazifik, wo die Franzosen ihre Atomtests durchführen. Ihre Literatur aber ist uns nicht bekannt.

Ihre beiden bekanntesten Gedichte sind „Helft den Gebärenden“ und „Wenn man Hiroshima sagt“. In dem einen kommt das unmittelbare Leiden unter der Atombombe zum Ausdruck, in dem anderen geht es um die schwierige Aufarbeitung von Hiroshima vor dem Hintergrund der japanischen Verbrechen im Zweiten Weltkriegs. Ist eines der beiden Gedichte für Sie heute wichtiger?

Sie sind beide wichtig und werden nun beide auch in japanischen Schulbüchern abgedruckt. „Wenn man Hiroshima sagt“ ist natürlich für die Regierungsseite zu kritisch, weil es Japans Kriegsschuld impliziert. Nur weil die Kritik an den japanischen Kriegsverbrechen in den anderen asiatischen Ländern in letzter Zeit so stark geworden ist, stößt das Gedicht heute auf größere Akzeptanz.

Das Gedicht „Helft den Gebärenden“ handelt von den Bürgern Hiroshimas, die sich inmitten der Tragik gegenseitig zu helfen wußten. In der Stadt starben damals täglich unzählige Menschen. Niemand wußte, wer in der nächsten Stunde dran sein würde. In der Nachbarschaft starb dort der Vater und dort die Tochter. Wir brachten die Leichen zum Fluß und verbrannten sie. Immer war der Tod um uns herum. So drückt das Gedicht mein Erstaunen aus, als selbst in einer solchen Situation ein Kind geboren werden konnte, um das sich alle kümmerten – aus Liebe, Vertrauen und Respekt vor dem Leben.

Der Kaiser war stets Ihr besonderer Feind. Warum?

Der Tenno hatte die Kriegserklärung abgegeben, mit der der Krieg begann. Er trug die Verantwortung für den Krieg. Nach der Niederlage hatte der Tenno deshalb seine Autorität verloren. Er lachte damals sogar die Hunde auf der Straße an. Dennoch wurde das Tennosystem bewahrt, und man behandelte ihn nach dem Krieg nicht schlechter als früher. Erst vergangene Woche hat Tenno Akihito Hiroshima besucht und kein Wort der Entschuldigung herausgebracht. Interview: Georg Blume