■ Die Erinnerung ist belastet von Lügen und Halbwissen
: 200.000 Tote – aber wofür?

Einmütig feierte der Westen in diesem Jahr den 50. Gedenktag der deutschen Kapitulation. Auch wenn die neonazistischen Übergriffe in den Jahren davor gezeigt hatten, daß auf dem Feld der Demokratie nie etwas auf ewig gewonnen ist: Gerade hier schien sich das Nachkriegssystem des Westens bewährt zu haben. Weder hegen wir heute Zweifel an der Schuldhaftigkeit der Nazi-Barbarei, noch können uns die neonazistischen Wölfe im Schafspelz leichthin eines besseren belehren. Hier ist der Westen der Auklärung treu geblieben.

Ganz anders geht es uns bei der Erinnerung an Hiroshima: Sie ist belastet von Lügen, Halbwissen und Gewissenlosigkeit. Gelogen ist es, wenn die amerikanische Regierung die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki weiterhin als quasi humanitäre Entscheidung preist, die eine Zahl größerer Opfer verhindert habe. Aus zuverlässigen historischen Quellen wissen wir heute: Es waren damals auch andere, moralisch verwerfliche Beweggründe im Spiel, für die der Beginn des Kalten Krieges und der Test einer bislang unerprobten Waffe ausschlaggebend waren. Diese Gründe einzuräumen und sich dabei für den unnötigen Mord an mindestens 200.000 zivilen Atombombenopfern zu entschuldigen, wäre für jeden amerikanischen Präsidenten seit 1945 (Eisenhower und Carter taten es erst als Ex-Präsidenten) eine Ehrensache gewesen. Statt dessen basiert das Atombombengedächtnis des Westens auf einem Halbwissen, das alle weitere Hiroshima-Aufklärung bis heute erschwert.

An Hiroshima aber kommt seit dem Krieg keine Politik vorbei: Mit der ersten Atombombe erlebte die Menschheit den denkbaren Vorboten ihrer völligen Zerstörung. Die Hochrüstung der Atommächte erzwingt seither die Vorstellung von der völligen Vernichtung der menschlichen Existenz. Vor dieser neuen moralisch-politischen Herausforderung versagt freilich auch die demokratische Politik: Die humanitäre Maskierung der ersten Atombombenabwürfe und das völlige Desinteresse am Schicksal der ersten Atombombenopfer verweisen seit 50 Jahren auf die größte politische Gewissenslücke des Westens.

Was die Verdrängung von Hiroshima zunächst so einfach machte, war die mit dem 6. August 1945 faktisch einsetzende Staatsräson des Kalten Krieges. Den weltweiten Anti-Atom- Bewegungen der fünfziger und achtziger Jahre konnten Regierungen und Philosophen nun mit der Behauptung „Lieber tot als rot“ entgegentreten. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der Nazi-Barbarei erschien es lange Zeit legitim, die atomare Bewaffnung in Kauf zu nehmen, um eine totalitaristische Gefahr abzuwenden.

Erst in diesem Jahr zeigen die Proteste gegen die französischen Atomtests im Pazifik, wie sehr sich seit Ende des Kalten Krieges die Rollen in der Atomwaffendiskussion verändert haben. Wohl nie zuvor seit Hiroshima hat es in Deutschland, aber auch in anderen Ländern des westlichen Bündnisses inklusive Japans, ein so einhelliges Aufbegehren gegen die Aufrüstungsentscheidung einer westlichen Atommacht gegeben. Nicht einmal während der Nachrüstungsdebatte Anfang der 80er Jahre, als man im Ausland leichtsinnig alle Deutschen zu Pazifisten erklärte, klang der Protest annäherend so einmütig wie heute. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Für Frankreichs Drohgebärden – aber genauso für jede amerikanische, englische, russische und chinesische Atombombe – fehlt heute jede politische Rechtfertigung außer dem philosophischen Verweis auf die nächste totalitäre Atommacht. In diesem Moment läßt sich das philosophische Argument sogar umkehren: Denn was vom Kalten Krieg übrig bleibt, ist der Totalitarismus der Bombe. Zeigen die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki nicht gerade, wie auch ein demokratischer Staat, der im August 1945 nicht ernsthaft bedroht war, der totalitaristischen Versuchung der Bombe nicht widerstehen konnte?

Aus diesem, bislang versteckten Argument zieht die Anti- Atom-Bewegung die Kraft für ihre plötzliche, unvorhergesehene Wiedergeburt. Tatsächlich aber war der Glaubwürdigkeitsgewinn für die Atomwaffengegner mit Ende des Kalten Krieges bereits absehbar. Überraschen muß vielmehr das wiedererweckte Interesse der Öffentlichkeit. Da ihr heute in Bosnien erneut die ganze Grausamkeit eines mit konventionellen Waffen geführten Krieges vor Augen geführt wird, kann das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges im nachhinein sogar vernünftiger denn je erscheinen. Um so beruhigender stimmt es, wenn viele Deutsche diesen Kurzschluß zur Zeit nicht mitmachen und im Falle Frankreichs gegen die atomare Staatsräson protestieren.

Daraus muß sich auch heute kein prinzipieller Pazifismus ableiten. Wer aus einer antitotalitären Haltung gegen Atomwaffen eintritt, muß sich nicht gleichzeitig dem Einsatz militärischer Mittel in Bosnien verschließen. Gleichzeitig aber hätten wir Hiroshima nicht begriffen, wenn wir nicht hinter jedem konventionellen Krieg auch die Gefahr eines lauernden Atomkrieges erkennen würden. Hiroshima ist und bleibt eben überall – darüber die besonders schlecht informierten Atommächte aufzuklären, ist deshalb eine der vordringlichsten Aufgaben deutscher

Politik. Georg Blume, Tokio