Godzilla allein zu Haus

Der Atombombenabwurf auf Hiroshima und sein Bild im japanischen Film  ■ Von Mariam Niroumand

Im ersten aller japanischen Spielfilme über den Bombenabwurf auf Hiroshima wird eine Szene beschrieben, die sich in unzähligen Berichten der Überlebenden stereotyp wiederholt. Kaneto Shindos „Die Kinder von Hiroshima“ beschreibt, wie eine Lehrerin am Tag X versucht, aus den Trümmern der versengten Stadt ihre Schulklasse in Sicherheit zu bringen. Einer der Jungen hat es mit langsam zuschwellendem Gesicht bis nach Hause geschafft. Zwar sieht er die schwarzen Flecken auf seiner Haut, die ausgefallenen Haare und spürt das Fieber, das der Entzündung der Verbrennungen folgt. Aber er weiß nicht, wie er aussieht; was ein bißchen auch heißt: er weiß nicht mehr, wer er jetzt ist. Wenn er nach einem Spiegel fragt, heißt es: „Dafür ist es noch zu früh. Warte noch eine Weile.“ Natürlich ist er irgendwann allein zu Haus, findet einen der ängstlich versteckten Spiegel und wird vom eigenen Anblick, wie er der Lehrerin später beschreibt, ein weiteres Mal vernichtet.

Fast scheint es, als habe dieses „Bilderverbot“ für ganz Japan gegolten, mitsamt der aus der Episode sprechenden Isolation der Opfer. „Die Kinder von Hiroshima“ stammt aus dem Jahr 1952, und es folgte keineswegs eine Flut weiterer Filme zu diesem Thema. Daß es bis dahin keine Bilder von Hiroshima gab, liegt schlicht daran, daß sie von der amerikanischen Besatzungsmacht verboten worden waren – einer Besatzungsmacht, die paradoxerweise im übrigen ständig auf die Demokratisierung und den Antinationalismus der Filmproduktion gedrungen hatte. Erstmals konnten in Japan Hollywoodfilme, die bis dahin als „zu amerikanisch“ abgelehnt worden waren, gemeinsam mit denen gezeigt werden, die unter eine politische oder sittliche Zensur gefallen waren: „Yoshiwara“ von Max Ophuls und „La Grande Illusion“ von Renoir sind nur zwei Beispiele für diesen seltsamen „Filmfrühling“, der doch das Drängendste ausschloß.

Aber war Hiroshima das Drängendste? „Tendenz“ und „Escape“ nennt Keiko Yamane, erster Chronist des japanischen Nachkriegskinos, die beiden wichtigsten Strömungen, in die auseinanderlief, was bis dahin ein Ufa-artig homogenes nationales Kino gewesen war: von den Amerikanern in Auftrag gegebene Aufklärungsfilme einerseits und heitere Unterhaltung andererseits, die sich erleichtert auf cineastische Liebesbezeugungen stürzte, die bis dahin strikt verboten gewesen waren.

Hinzu kommt aber ein weiteres, schwerwiegenderes Hemmnis, sich mit der Bombe zu befassen. Es erklärt, warum auch nach dem Ende der Besatzung 1952 nicht die Flut von Filmen einsetzte, die man angesichts der Schwere des Schocks hätte erwarten können. In „Schwarzer Regen“ (1988) von Shohei Imamura sieht man, wie eine Familie bis dato respektierter Vorstadtbewohner zu Parias wird. Das Ehepaar und deren Nichte waren nach dem Abwurf durch die Stadt gegangen, um sich in der Fabrik des Onkels in Sicherheit zu bringen.

Der Film zeigt in beherrschten, fast wochenschautauglichen Bildern ein Inferno aus zerfließenden Körpern, vagabundierenden Wahnsinnigen und gekrümmten Gebäuden und später, auf einer Ruderfahrt, den schwarzen Regen auf der Haut der Nichte Yasuko. Fünf Jahre später ist Yasuko im heiratsfähigen Alter, und obwohl sie sehr schön ist, hält niemand um ihre Hand an. Potentielle Interessenten fragen unter endlosen verlegenen Ausflüchten nach einem Gesundheitszeugnis. „Sie war nur im Regen, sie ist nicht in der Stadt gewesen!“ beteuert ihr Onkel wieder und wieder. Aber auch die Übergabe von Yasukos Tagebuch an einen Arzt hilft nicht: Yasuko, ihr Onkel und ihre Tante sind Hibakusha, Verstrahlte. Nicht nur will niemand Kinder von Yasuko aus Angst vor Mißbildungen; man will auch nicht sein Herz an jemanden hängen, der zwar schön aussieht, aber womöglich innerlich zerfällt. Sie beschließt, bei Onkel und Tante zu bleiben – gab es den Ausdruck „nuclear family“ damals schon?

Inzwischen war das Wort „Strahlenkrankheit“ in aller Munde und mit entsprechend vielen Mysterien behaftet. Sunao Tsuboi, Generalsekretär des Verbandes der Atombombenopfer von Hiroshima, beschreibt, wie die Hibakusha wegen der weißen Hautflecken mit Leprakranken verglichen und ebenso gemieden wurden. Die 6.000 Jugendlichen, die als Waisen zurückgeblieben waren, wurden die Yakuza von Hiroshima, berüchtigte Gangs von Kleinkriminellen, während die Prostituierten, die als Hibakusha nicht mehr von Japanern akzeptiert wurden, zu den amerikanischen Militärbasen ziehen mußten. Auch unter den Hibakusha selbst gab es noch eine Hirarchie: Unter den gewöhnlichen Strahlenopfern standen diejenigen, die schon vorher Outcasts und nun auch noch verstrahlt waren, die Burakumin, gefolgt, ganz ganz unten, von den Koreanern, die von dem Abwurf betroffen waren.

Dieser Paria-Status, ebenso wie ihr Schuldgefühl gegenüber den Toten, die sie am 6. August hatten zurücklassen müssen, erinnert an die Lage der Holocaust-Überlebenden in Israel. Zwar hatte die Tatsache, daß die Japaner das erste Volk waren, das einem Atombombenangriff zum Opfer gefallen war, der Nation eine Art Konsens beschert; ähnlich wie die Vernichtung der europäischen Juden die israelische Staatsgründung legitimierte. Im Unterschied wiederum zu den Israelis diente das Selbstverständnis als „Nation von Opfern“ (FAZ vom 5. 8.) in Japan zur Verdrängung der Kriegsschuld.

Die Schwierigkeiten des Filmemachens über die Shoah sind allerdings andere als die im Zusammenhang mit dem Bombenabwurf über Hiroshima und seinen Folgen. Sie hängen mit dem grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ereignissen zusammen: Die Shoah war nicht Teil der Kriegshandlungen, die Juden keine Aggressoren. Es gab nichts zu erzählen, weil der Vernichtung auch kein noch so perfider „Sinn“ abzupressen war.

Bei Hiroshima hingegen besteht das Darstellungsproblem, neben der beschriebenen Ambivalenz gegenüber den Opfern, womöglich auch in der gespenstischen Unsichtbarkeit der Täter. Kein Wunder, daß der Abwurf und seine Folgen wieder und wieder als Naturkatastrophe in die Nähe des grausamen Erhabenen gerückt wurden. Hier tritt naturgemäß der Trash- und Splatterfilm als Heimstatt alles unbewältigt Kreisenden und Untoten auf den Plan. Godzilla und viele seiner Nachkommen sind das Produkt atomarer Strahlung, gepaart mit menschlicher Hybris von Wissenschaftlern, die oft von Außerirdischen gesteuert werden. Sein Hautpanzer, seine starre Haltung und die wie versengt aussehenden Rückenwirbel erinnern an die Opfer, die dem Epizentrum am nächsten gekommen waren. Solchermaßen Opfer und Zerstörer in einer Figur macht Godzilla, wie kein Schauspieler das jemals könnte, die zwiespältige Haltung gegenüber den Hibakusha sinnfällig. Unter den Gebäuden, die Godzilla mit einem Handstreich beiseite fegt, sind oft leicht wiedererkennbare Wahrzeichen der Hauptstädte; wenn sie fort sind, ist die Stadt nicht mehr „wahr“. Auch Filme wie „Das letzte Inferno – Der Untergang Japans“ arbeiten mit „gewaltigen Lavaströmen“, die sich aus einem ominösen „Inneren der Erdkruste“ auf die ahnungslose Stadt ergießen. Vor immer neuen „wissenschaftlichen Schaubildern“ stehen immer neue bebrillte Herren, die erklären, daß „Materie immer im Fluß ist, die Masse strömt, die Erde nie stillsteht“. Und immer wieder: „Unser Wissen reicht nicht aus uns vorzustellen, was auf uns zukommt.“

Ein verblüffendes Pendant zur Lage der Hibakusha in Japan findet sich im amerikanischen Trash- Kino, beispielsweise in einigen Beiträgen der berüchtigten „Tromaville“-Serie. „The Toxic Avenger“ beschreibt im üblichen Tromaville-Setting von Muskelprotzen, Bikini-Mädchen, blauem Himmel und Fitneß-Studios, wie ein pickliger kleiner Außenseiter, der von allen gehänselt wird, in ein Faß mit Atommüll fällt. Schnell verliert er seine Haare, die Haut wirft sich in Blasen zu grotesken Verformungen auf, sein Körper platzt aus allen Nähten. Der Unfall verleiht ihm magische Kräfte; endlich kann er die Demütigungen, die an ihn ausgeteilt worden sind, doppelt und dreifach zurückzahlen. Er kriegt alle Weiber, ob sie wollen oder nicht (eine Blinde will). Geschickt gelöst: Ähnlich wie bei vielen Vietnamfilmen wird der Krieg nach innen verlegt, ebenso wie die Angst vor den Opfern. „The Toxic Avenger“ endet damit, daß das Strahlenopfer mit seiner neuen Freundin an der Hand und großem Hurra in den Kreis der Tromaville- Community wieder aufgenommen wird. Ein solches Finale war bislang im japanischen Film noch nicht möglich. Godzilla ist noch immer ein Alien.