Carmen stirbt in Eutin

Seit über 40 Jahren zelebriert das Städtchen am See die „Eutiner Sommerspiele“, und das ganze normale Sommer-Sonnen-Publikum kommt und genießt  ■ Von Jan Feddersen

Kurz vor Mitternacht stirbt Carmen ihren ergreifenden Tod. Natürlich wissen die Zuschauer, was sie am Ende der Aufführung erwartet. Und doch ist es auf den Plastikschalensitzen der Freilichtbühne Eutin so gespannt still, als bliebe doch noch ein Fünkchen Hoffnung, daß die selbstbewußte Spanierin ihrem im Libretto vorgesehenen Schicksal entrinnen könnte. „Wer kennt ,Carmen‘ nicht?“ fragt Siegfried Grote, Intendant der „Eutiner Sommerspiele“, um gleich zu antworten, daß „das Stück doch so populär ist wie nur wenig andere Opern“. Selbst Friedrich Nietzsche hat es mehrmals gesehen: „Fünf Stunden sitzen: erste Etappe der Heiligkeit.“

Auch deshalb kann Grote lässig alle Fragen beantworten: Sorgen um die Platzausnutzung hat er nicht, seine Vorstellungen sind meistens ausverkauft. So sitzt das Publikum ergriffen unter dem kühlen Abendhimmel, selbst die Amseln schweigen, als Don José mit einem Dolch Carmens leidenschaftlichem und aufsässigem Leben ein Ende setzt. „Das hat sie nun davon“, murmelt eine Zuschauerin und nimmt unter der Wolldecke die Hand ihres Mannes, als ob sie ihm signalisieren möchte, solchen Schabernack mit ihm gewiß nie zu treiben. Der Gatte nickt: „Ist doch immer wieder schön.“

„Carmen“ in der Holsteinischen Schweiz. „Eutiner Sommerspiele“ heißt die noch bis Ende nächster Woche laufende Veranstaltung, zu der allabendlich 2.098 Zuschauer durch den Schloßgarten schlendern. Seit 1951 gibt es diesen sommerlichen Reigen von Stücken, die auf städtischen Bühnen längst durchgespielt, zu Publikumsrennern geworden sind. „Zar und Zimmermann“, „Die Zauberflöte“, „Der Freischütz“ oder auch – und immer wieder – „Die Fledermaus“: Es sind die Evergreens des E-Musik-Gewerbes, Musik die jeder kennt.

Bis Anfang der fünfziger Jahre war Eutin nichts als Eutin. Dann besann man sich darauf, doch eigentlich auch die Geburtsstadt Carl Maria von Webers zu sein. Zwar hielt sich der Komponist des „Freischütz“ nur die ersten Lebenswochen in Eutin auf und hatte auch sonst kaum Bindung zu dieser geestigen Landschaft zwischen Ost- und Nordsee. Aber was machte das schon? Man wollte am touristischen Aufschwung der Nachkriegsjahre teilhaben. Doch an der Ostsee ließ der nur die Kassen zwischen Travemünde und Neustadt klingeln. Eutin liegt unglücklicherweise 30 Kilometer von allen Stränden entfernt und hatte nichts zu bieten außer Rosen. Man nannte sich „Rosenstadt“, aber auch das verhalf nicht zu größerem Gewerbesteueraufkommen. Also Carl Maria von Weber: Klug war die Idee schon, auf das Werk eines Komponisten zu bauen, der genug Musik schrieb, welche dem einfachen Volk aus Wunsch- und Geburtstagssendungen vertraut ist. Man kalkulierte damit, daß das tagsüber sonnenbadende Volk abends ein wenig Zerstreuung wünschen könnte. Also hob man die „Eutiner Sommerspiele“ aus der Taufe – Sonnenbrand am Strand und Erbauung am Abend, so das Kalkül.

Gegeben wird seit über 40 Jahren alles, was von der Tonträgerindustrie als „Konzert für Millionen“ feilgeboten wird: keine Experimente, kein Stockhausen, kein Zimmermann, kein Berlioz. Siegfried Grote, der auf die Frage, ob er neidisch sei, es nicht wie Gérald Mortier zu einem Posten in Salzburg geschafft zu haben, meinte: „Bitte sehr, ich habe doch in Flensburg inszeniert.“ Dieser Intendant weiß, was das Publikum will: „Opern zum Mitfühlen, Opern, die es kennt, Opern, die nicht anstrengen.“

Grote sagt dies aus Überzeugung, doch auch kaufmännisch gesehen hat er recht. Seine Sommerspiele hängen nur bedingt an den Tröpfen der öffentlichen Förderung. Im letzten Jahr entfiel sogar die für die Eutiner Gegend so segensreiche Zonenrandförderung. „Gespielt wird, was volle Ränge bringt.“ Und da kann der Präsident des Deutschen Bühnenvereins noch so mäkeln: „Heute“, meinte er kürzlich, „heute wird jede Kirmes zum Festival erklärt, und jede Grillbraterei auf irgendeiner Straße ist ein zum Festival hochstilisiertes Ereignis.“

Die Skandale und Skandälchen um das Schleswig-Holstein-Musik- Festival (SHMF) sind über Eutin hinweggerauscht wie eine Brandung. Der Sandburg am Eutiner See konnte sie nichts anhaben: Als Mitte der 80er Jahre der Hamburger Musiker Justus Frantz im Klüngel von Sponsoren und dem damaligen Ministerpräsidenten des Landes, Uwe Barschel, den Plan ausheckte, die aus Salzburg, Bayreuth und Glyndbourne hinläglich bekannte Kaviar- und Champagnerkultur dortiger Festspiele ins marschentiefe Schleswig- Holstein zu transportieren, da gab es die Eutiner Sommerfestspiele schon längst.

Und es ist derzeit offen, ob das SHMF überhaupt weiter existieren kann. Nicht nur, weil Frantz nicht mehr will und sein hübsches Bubigesicht inzwischen woanders zum Lächeln feilbietet, nein, auch die Stimmung hat sich gewandelt: Die Yuppies, also die Kunden des SHMF, sind älter geworden. Jahrelang hatte man klassische Musik allsommerlich satt, gegeben im gediegenen Country-Ambiente, in Scheunen und Landkirchen, auf Plätzen und in Ställen. Nun fährt das Bildungsvolk gleich nach Salzburg oder nach Bayreuth, also zu den echten Weihetempeln der gehobenen Unterhaltungsbranche.

Doch während die schleswig- holsteinische SPD-Regierung kaum begreift, weshalb sie mit griffelspitzerischen Ansprüchen auf Einsicht in die SHMF-Rechnungsbücher niemals diesen bizarren Pomp um den Willen zur Anhäufung kulturellen Kapitals befriedigen kann, klagen die Eutiner höchsten im bescheidenen Rahmen. Die Leute kommen immer wieder, weiß Grote zu schätzen, „denn sie wissen, was sie tun“, setzt er feinsinnig nach.

Es sind ja auch nicht diejenigen, die die Frantz-ohne-Frantz-Spiele besuchen würden. Sie kommen mit braunen Wolldecken, die in ihren Pensionen und Ferienwohnungen für kühlere Tage bereitliegen. Sie kommen mit dem sichtbaren Vorsatz, sich zu vergnügen, sich gut zu unterhalten. Eutin – das sind interaktive Spiele, fern aller Heiligkeit, die in geschlossenen Häusern fast immer herrscht.

Vor einigen Jahren stürzte einmal ein Sänger während seiner Arie fast in den Orchestergraben. Gottlob war ein Zuschauer aus der ersten Reihe gleich zur Stelle, um ihm wieder zur Balance zu verhelfen. Auch schämt sich niemand, die mitgebrachten Kühltaschen zu öffnen, um bei schwüler Witterung ein paar Bier zu zischen: „Wir können ja nicht die Leute filzen“, sagt Intendant Grote. Das Klima also: leger, auch an diesem Abend. Die Kulisse: wie man sich Spanien vorstellen möchte, mit groben Tischen und kantigen Stühlen, Sombreros, Frauen mit dunklen Haaren und langen Kleidern, Männer in schneidigen Kostümen. Man summt mit, „auf in den Kampf, Torero“, geizt nicht mit spontanem Applaus und mit lauten Ermunterungen: „Jetzt ma' ran“. Man kommt im edlen Kostüm, doch auch in Jogginghose, trägt bei mäßiger Witterung den Friesennerz überm Arm und läßt auch sonst jeden Dress-code außer acht. Pausengespräche darüber, ob eine Sängerin sich unpäßlich zeigte oder ein Sänger mal wieder krächzte, das zähnefletschende Geplauder um nichts und wieder nichts, muß in Eutin vermißt werden.

In der Pause, so gegen 22 Uhr, treibt's das Volk vor die Pforten, dorthin, wo geraucht werden darf, wo Würstchenbuden Umsatz machen mit Limonade, Bier und Sekt. Allein: Es fehlt das echte Parkett, das Foyer, auf der die Damen ihre Pumps klackern lassen und die Herren ihre Uhren unter den goldenen Manschettenknöpfen herausnesteln, so wie in Bayreuth. Eutin ist viel zu prol, um – trotz all der Opern, die doch auf die Gewichtigkeit des Unterfangens hindeuten – als kulturell wertvoll durchgehen zu können.

Und doch fehlt der „Carmen“ an diesem Abend der entscheidende Akzent: die Enten. Früher pflegten viele Zuschauer die Würstchen zu essen und das dazugereichte Brötchen an die nur wenige Meter entfernt auf dem Eutiner See schwimmenden Enten zu verfüttern. Die Vögel fanden das so wunderbar, daß sie selbst während der Aufführungen auf die Bühne wackelten. Das Gelächter der Zuschauer brachte manche Sopranistin durcheinander, glaubte sie doch, daß die Heiterkeit, unschicklicherweise mitten in einer klagenden Liebesarie, ihr galt.

Die Enten schmähen in diesem Jahr ihre Brotgeber. Die Gründe sind ungeklärt, doch auch Grote macht sich seine Gedanken. „Es gibt hier ja viele Chinesen“, sagt er ganz ernsthaft, „die machen daraus vielleicht Pekingente.“ Es ist nicht sicher, daß diese Vermutung die Eutiner Sommerfestspiele in Not bringen werden. Eher schon das Ansinnen einiger Ökos, die das Festpielareal ins Land hinein verlagern möchten, weil die Uferflora von den Zuschauern gestört werden könnte. Doch selbst die Grünen mögen dabei nicht mittun: Sie wissen, daß Eutin empfindliche Einbußen wirtschaftlicher Art hinnehmen müßte, sollten die Sommerspiele künftig ohne das träge Plätschern der Seewellen auskommen müssen.

Kurz vor Mitternacht. Die Hamburger Symphoniker, die in ihrem Orchestergraben gegeigt und getutet haben, was ihr Zeug hielt, steigen in den Bus, der sie nach Hamburg zurückbringt. Die Zuschauer gehen durch den Schloßpark zu ihren Omnibussen, die nach Kiel, Eckernförde, in den Ferienmoloch Damp 2000 oder nach Lübeck rollen. Aus den Zigarettenfabrikarbeiterinnen Sevillas werden wieder Schülerinnen und Schüler des örtlichen Gymnasiums, aus dunkel geschminkten Spanierinnen blonde Schleswig- Holsteinerinnen. Mit Kartoffelsalat und Bier feiern sie ihr Fest: Festspiele in Eutin sind auch Feten hinter den Kulissen.

Ob es den Zuschauern gefallen hat, konnte ein Musiker von den Hamburger Symphonikern nie herausfinden. „Sie reden nichts darüber“, sagt er.

Eine aber sagt immerhin: „War ja'n büschen kühl.“ Ihre Begleiterin antwortet: „Hat aber nich' geregnet.“ Der Eutiner See liegt ruhig in der Landschaft, nur ein bißchen Wind kräuselt hin und wieder seine Oberfläche. Soviel Unschuld war nie.