■ Jürgen Trittin: Bombe hat die Welt unsicherer gemacht
: „Jeder Krieg kann eskalieren“

Jürgen Trittin, 41, Vorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen, nahm an dem seit 1955 jährlich stattfindenen „Kongreß gegen Atombomben“ in Tokio und Hiroshima teil.

taz: UNO-Generalsekretär Butros Butros Ghali hat in Hiroshima verkünden lassen, daß die Welt durch die Atombombenabwürfe auf Japan sicherer geworden sei. Hat Amerika die Welt von der Richtigkeit der Atombombenabwürfe vor 50 Jahren überzeugen können?

Jürgen Trittin: Ich empfinde die Äußerung des UNO-Generalsekretärs angesichts von 350.000 Opfern deplaziert. Zunächst hat die Bombe die Welt unsicherer gemacht. Erstmals in der Geschichte der Menschheit können wir seither die menschliche Existenz auslöschen.

Egal welches Argument die Amerikaner heute anführen – sei es der verhinderte Landkrieg, der beginnende Kalte Krieg oder der wissenschaftliche Testversuch –, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bleiben ein Verbrechen. Keiner der hier war, dürfte dem widersprechen.

Muß man in Hiroshima gewesen sein, um sich das Unvorstellbare vorstellen zu können?

Was ich schon zuvor in Filmen und Büchern über die Wirkung der Atombomben erfahren habe, ist beim ersten Kontakt mit Hiroshima kaum mehr glaubhaft. Hiroshima wirkt heute für europäische Augen wie eine glitzernde Metropole. Erst die Begegnung mit den Opfern der Bombe und ihren Nachfahren läßt einem die im Wortsinn totale Vernichtung der Stadt deutlich werden. Eigentlich ist das moderne Hiroshima auf einem gigantischen Massengrab aufgebaut.

Welchen Einblick haben Ihnen die Begegnungen mit Atombombenopfern in Japan gegeben?

Faszinierend war für mich die Begegnung mit einer Südkoreanerin, die als Zwangsarbeiterin für Mitsubishi während des Krieges nach Hiroshima verschleppt worden war und dann ein Opfer der Atombombe wurde. Nach dem Krieg ging sie nach Südkorea zurück, wo ihr bisher von keiner Seite staatliche Unterstützung zukommt. Das Leiden der Atombombenopfer wird zwar heute in Japan nicht mehr totgeschwiegen, aber in seltsamer Weise isoliert wahrgenommen. Die Hibakushas sind wie diese Südkoreanerin eine permanente Mahnung an die Vergangenheit Japans, weil ihre Klagen auf Entschädigung durch den japanischen Staat immer wieder die Frage der japanischen Kriegsschuld thematisieren.

Erscheint Ihnen der japanische Staatspazifismus aus der Geschichte heraus legitimiert oder als künstliches Produkt der Nachkriegszeit?

Der Pazifismus wurde Japan nach dem Krieg sicherlich aufgezwungen, doch die Japaner haben seine ökonomische Zweckmäßigkeit schnell erkannt und genutzt. Mir scheint, Japan möchte seinen bisherigen Absentismus in der Außenpolitik weiterhin erhalten.

Sollten Japan und Deutschland – auch im Rahmen der geplanten Reform des UN-Sicherheitrats – ihre gemeinsame Position als globale Zivilmächte stärken?

Die Deutschen wollen aus meiner Sicht aufgrund eigener Großmachtambitionen in den Sicherheitsrat. Für Japan gilt das vielleicht nicht in gleichem Maß. Wichtiger als die Beteiligung Japans und Deutschlands ist ein stärkeres Mitwirken der Dritten Welt im Sicherheitsrat.

Warum sind Sie heute der seit Jahren erste prominente Grünen- Politiker, der Hiroshima besucht?

In Deutschland haben viele, auch Grüne, geglaubt, daß mit dem Ende des Warschauer Paktes das Atomzeitalter vorüber sei. Das dem nicht so ist, ist der Öffentlichkeit erst in diesem Jahr mit der Ankündigung französischer Atomversuche wieder bewußt geworden. Nach dem letzen Senatsbeschluß setzt auch die USA darauf, ihren Atomwaffenbestand zu erhalten und zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund, und weil die 50 Jahre seit dem ersten Atombombenabwurf wirklich einen Einschnitt markieren, erschien es mir notwendig, heute hier zu sein.

Gibt es nach Joschka Fischers Bekenntnis, er sei kein Pazifist, Zweifel am Hiroshima-Pazifismus der Grünen?

Joschka Fischer ist ein hervorragendes Mitglied der Grünen, aber die Grünen sind nicht Joschka Fischer. Ihm jedoch nachzusagen, er halte Atomwaffen für ein Instrument einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik, ist üble Nachrede.

Es gibt in der Bundesrepublik insbesondere durch den Einfluß der Friedenbewegung eine sehr breite Ablehnung des Besitzes und der Nutzung von Atomwaffen sowie der Drohung mit ihnen. Was die Stundentenbewegung in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialimus in der deutschen Gesellschaft verankert hat, das hat die Friedensbewegung in der Atomwaffenfrage erreicht. Heute sind 95 Prozent der Deutschen gegen die französischen Atomtests.

Wenn der Anti-Atomkonsens in Deutschland so breit ist: Warum blieb es dann beim Besuch des deutschen Präsidenten Gustav Heinemann in Hiroshima, der bis heute als einziger hoher deutscher Staatsgast in der Atombombenstadt war?

Hiroshima war immer eine Mahnung gegen alle Atompolitik, auch die zivile. Als Hannover Partnerstadt von Hiroshima wurde, kam der Bürgermeister sofort hinsichtlich seiner Haltung zur Atomkraft ins Schußfeuer der Kritik. Insofern bleibt Hiroshima als Symbol in Deutschland politisch umstritten.

In Deutschland überlagert heute der Streit um den Einsatz militärischer Mittel in Bosnien die friedenspolitische Diskussion. Ein grundsätzliches Argument des Pazifimus im Atomzeitalter ist die Warnung, daß jeder kriegerische Konflikt in einem Atomkrieg und der Zerstörung der Menschheit enden kann. Sie selbst warnten vor einiger Zeit vor der möglichen Eskalation des Bosnien-Krieges, scheinen Ihre Haltung aber inzwischen verändert zu haben. Wie unterscheiden sich Taktik und Prinzipien bei Ihnen?

Ich sehe in meiner Position keine Änderung. Es ging mir immer darum, den Bosnien-Konflikt zu begrenzen. Eine Politik des Embargos und des Boykotts erscheint mir sinnvoller als ein unnötiges Hereinpumpen von Waffen. Unabhängig davon: Die Eskalation eines jeden Krieges im Atomzeitalter bis zur Nuklearkatastrophe ist nicht gebannt. Interview: Georg Blume,

Hiroshima