Flucht „in allem, was sich bewegt“

■ Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR flohen bislang 45.000 Menschen vor der kroatischen Armee

„Viele Häuser sind schon verlassen, andere werden aufgegeben, sobald eine Pause im Beschuß die Flucht der Bewohner zuläßt. Im Zentrum sehe ich ein paar Menschen, die aus Hauseingängen die Zerstörung der Umgebung betrachten. ,Was ist denn los, um Himmels willen?‘ ruft ein Mann, der schutzsuchend über die Straße rennt. Und eine weinende Frau sagt: ,Wo soll ich denn nun hingehen? Ich habe kein Geld, keine Verwandten in Serbien, was soll ich nur machen? Wenn ich wenigstens meine Kinder hätte wegschicken können.‘“

Luijana Mojsilovic, Korrespondentin der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press, war Augenzeugin während der Angriffe auf die Krajina- Hauptstadt Knin. Die kroatische Offensive hat die bislang größte Massenflucht von Serben seit Beginn der Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien ausgelöst. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) traten bislang etwa 45.000 Menschen in Traktoren, Autos, Pferdefuhrwerken und „allem, was sich bewegt“ die Flucht vor der kroatischen Armee an. Die UNO habe drei Flüchtlingskolonnen von je 20 Kilometern Länge in Richtung Nordbosnien ausgemacht. In den nächsten Tagen werde mit bis zu 60.000 weiteren Flüchtlingen gerechnet, erklärte UNHCR-Sprecherin Alemka Lisinski.

Die kroatische Armee ließ nach eigenen Angaben zwei Korridore offen, um die Evakuierung der Flüchtlinge nach Bosnien zu ermöglichen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erklärte, daß bis Sonntag rund 6.000 Menschen, darunter zahlreiche Alte und Kinder, im nordbosnischen Banja Luka eingetroffen seien. Weitere 20.000 Flüchtlinge würden im Laufe des Tages in der serbisch kontrollierten Stadt erwartet. Die Menschen seien in Turnhallen und Schulen untergebracht. Nach serbischen Angaben gibt es dort kein fließendes Wasser und keine Toiletten.

In der gesamten Krajina lebten zu Beginn des kroatischen Vormarsches rund 170.000 Menschen. Vielen ist der Fluchtweg versperrt, weil die kroatische Armee die Straßenverbindungen aus dem Gebiet um Knin in die serbischen Gebiete Bosniens abgeschnitten hat. Die Krajina-Serben haben das UNHCR deshalb um Hilfe bei der Evakuierung von 30.000 Flüchtlingen gebeten.

Nach einer Schätzung des Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) sind mehr als die Hälfte aller Vertriebenen in Bosnien Kinder. Nach Angaben des Pressesprechers des Deutschen Unicef-Komitees, Rudi Tarneden, befänden sich viele Kinder im Schockzustand, litten unter Schlaflosigkeit und hätten Angst. Mehr als zwei Drittel der Kinder hätten Familienangehörige verloren, sieben Prozent sogar beide Eltern. Die Kindern müßten psychosozial betreut werden, sagte Tarneden.

Besonders schreckliche Folgen hat der Krieg in Bosnien für Kinder und Schwangere. Laut einer Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind dem Krieg bisher 16.000 Kinder zum Opfer gefallen. Die Zahl der mißgebildeten bzw. unterernährten Neugeborenen habe sich seit 1992 verdoppelt bzw. verdreifacht. Auch für Schwangere hätte der Krieg viel schlimmere Folgen, als bislang angenommen wurde. gb