Vom Pazifik gesehen: die Vereinigungskrise

■ Jürgen Kocka, Chefabwickler von DDR-Geschichtsinstituten, schreibt über deutsch-deutsche Wehen und Fehden und liefert doch nur abstrakte Platitüden

Stanford, die hübsche Campusstadt in Kalifornien, erschien Jürgen Kocka offenbar als der geeignete Ort, um resümierend die „Vereinigungskrise“ als „Geschichte der Gegenwart“ Revue passieren zu lassen und verstreute Beiträge – bereits veröffentlichte Vorträge, Zeitungsartikel u. ä. – zu einem Buch zusammenzubinden. In seiner Person verschränkt sich Weltläufigkeit mit intimer Kenntnis des Gegenstandes – wie nicht anders zu erwarten von einem der führenden deutschen Historiker. In den 60er und 70er Jahren zählte er zu den Vorreitern einer neuen „emanzipatorischen“ Geschichtswissenschaft, die sich nicht zuletzt wegen der fundierten Beiträge Kockas, allerdings vornehmlich zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, längst etablieren konnte.

Von den einstigen Rebellen hätte ein Außenstehender erwarten können, daß sie mit der gleichen Verve dem Vereinigungsprozeß und der Geschichte der Gegenwart zu Leibe rücken würden. Doch von Berlin bis nach Stanford ist es ein langer Weg, der aber die „Gefahr“ einer „Dialektik der Aufklärung“ in sich bergen könnte. An dieses Werk der beiden Häupter der Frankfurter Schule, Adorno und Horkheimer, wird man wehmütig erinnert, wenn man die Geruhsamkeit und Abgeklärtheit der neuen Texte Kockas zu einem Prozeß liest, der doch alles andere als geruhsam vonstatten ging. Unser Autor war daran in manchen Bereichen maßgeblich beteiligt. Merkwürdigerweise aber kommt dies in seinen Ausführungen nur sehr begrenzt zum Ausdruck.

1990/91 stieg er zum Chefevaluator (Abwickler, d. Red.) der historischen Institute der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR auf. Danach wurde er kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunktes Zeitgeschichtliche Studien in Potsdam. Es mag an der Bescheidenheit von Kocka liegen, daß er dies in der Einleitung auf die Kurzformel bringt: „Von 1990 bis 1992 gehörte ich dem Wissenschaftsrat an und nahm an dessen Evaluation der außeruniversitären Forschung in der zu Ende gehenden DDR teil“, und dann der Hinweis auf die kommissarische Leitung des oben genannten Forschungsschwerpunktes. Mehr erfährt man über die damit verbundenen Aktivitäten kaum. Merkwürdig, daß Kocka so tiefstapelt.

Wenn wir es mit einer auf intensiver Forschung beruhenden Studie zu tun hätten, wie es der Titel vermuten läßt, dann wäre auch dies noch verständlich. Aber Ergebnisse diesbezüglicher Aktivitäten finden sich – wohlmeinend formuliert – nur in Ansätzen. Und zwar gilt dies für alle vier Kapitel: die Wende, die Wiedervereinigung und Wissenschaft, die DDR als Geschichte, Vereinigungskrise. Mit einer schlüssigen Gliederung hat unser Autor so seine Schwierigkeiten. So erfährt man gleich in den ersten beiden Beiträgen, daß 1989 eine tiefe Zäsur war. Nur die Titel und die Länge der Ausführungen unterscheiden sich, die Grundaussagen, ja selbst die Argumentationen, dagegen kaum.

Im Kapitel „Wiedervereinigung und Wissenschaft“ findet sich ebensowenig aufregend Neues wie in dem mit „Die DDR als Geschichte“ überschriebenen. Dabei hätte man gerade auf diesen Feldern erwartet, daß Kocka mehr bietet als Allgemeinplätze und Variationen zum Thema: „Die DDR- Geschichtswissenschaft war eine Geschichtswissenschaft in der Diktatur. Davon wurde sie tief beschädigt.“ Und: „Der tiefe Umbruch von 1989/90 hat Auswirkungen auf die Art, in der sich die Gegenwart zu ihrer Vergangenheit verhält.“ Diesen Aussagen – sie stehen jeweils am Beginn der beiden Kapitel – läßt sich an sich nicht widersprechen. Das trifft auch auf den Einstieg des abschließenden Kapitels zu: „In den letzten Jahren war zu erleben, was man als Historiker mit strukturgeschichtlichen Präferenzen an sich weiß, aber häufig vergißt: Die Resultate politischer und sozialer Handlungen stimmen mit den ihnen zugrundeliegenden Absichten nur selten überein. Die Geschichte ist ein Prozeß.“ Vollkommen richtig, würden sicherlich auch viele Historiker sagen, die nicht die Kockaschen Präferenzen besitzen. In den Kockaschen Texten bleiben diese Aussagen jedoch abstrakte Platitüden.

Vielleicht war Stanford doch nicht der richtige Ort, um die „Vereinigungskrise“ in Deutschland zu beschreiben. „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah“, lautet ein Sprichwort. Und möglicherweise wäre es auch für Jürgen Kocka ratsamer gewesen, aus den eigenen Akten zu schöpfen oder einschlägige Archive zu besuchen. Zitiert wird das vorliegende Werk sicherlich häufig werden. Dafür steht schließlich schon der große Name des einflußreichen Autors. Armin Mitter

Jürgen Kocka: „Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, 205 S., 24.90 DM.

Der Autor arbeitet an der Humboldt-Universität und ist Mitbegründer des Unabhängigen Historiker-Verbandes.