Große Ansprüche – begrenzte Einsichten

Fünfzehn prominente Ex-DDR-Rechtswissenschaftler mit jahrzehntelanger Berufserfahrung schreiben über die Rechtsordnung der DDR und beschwören dabei doch nur die alte Rechtsfassade  ■ Von Falco Werkentin

Der rechtspolitische Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion, Uwe-Jens Heuer, hat seinen Goethe gelesen. Mit einem hübschen Zitat über die Aufrichtigkeit beginnt er seine Einleitung zu einem eben von ihm herausgegebenen Sammelband über „Anspruch und Wirklichkeit der DDR-Rechtsordnung“. Das Interessante an dem Buch: sämtliche AutorInnen, insgesamt 15 prominente RechtswissenschaftlerInnen haben 30 bis 40 Jahre im Dienste des DDR-Rechts gestanden, verfügen deshalb, wie Heuer meint, „über Wissen (...), das genutzt werden sollte“.

Genau deshalb ist der Band aber auch als Dokument zu lesen, das über die Kritik- und Selbstkritikfähigkeit von Funktionseliten der ehemaligen DDR Aufschluß gibt. Jedoch die kalte Dusche folgt sogleich: „Ursache für Korrekturen“ der immerhin bis 1989 vom Autorenkollektiv vertretenen Positionen, können „nicht die veränderten Machtverhältnisse (...), sondern nur veränderte Einsichten sein“, schreibt Heuer selbstbewußt. Eine Einsicht des PDS- Rechtsexperten ist heute, daß das Recht im SED-Staat nie „Maßstab der Politik, sondern immer nur deren Instrument“ gewesen sei.

Mithin wäre also einerseits zu erwarten, daß die im Band vereinten Beiträge zu den verschiedensten Bereichen des DDR-Rechts jeweils konkretisieren, was diese abstrakt summierend formulierte Erkenntnis zum Beispiel im Familien- oder Zivilrecht, im LPG- oder Strafrecht für die dieser Rechtsordnung Unterworfenen bedeutete. Andererseits sollten Ex- DDR-Juristen nach 30 oder 40 Jahren Tätigkeit auskunftsfähig darüber sein, wie die Partei(-führung) ihre Vorherrschaft über die Gesetzgebung, über rechtliche Entscheidungen im Einzelfall, über die Berufung und die Absetzung von Richtern und anderen Justizfunktionären in den jeweiligen Rechtsbereichen durchsetzte und sicherte.

Doch diese Erwartung geht fehl, obwohl es an einschlägigen Unterlagen nicht mangelt. Die Archive der ehemaligen DDR sind mit Dokumenten vollgestopft, die ausweisen, daß und wie die SED von 1949 bis 1989 hinter der Fassade der geschriebenen Verfassung contra legem eine völlig andere Gesetzgebungs- und Entscheidungsstruktur installierte, praktizierte und gegenüber gelegentlich auf das geschriebene Recht beharrenden Justizfunktionären durchsetzte.

Die „Rechtsordnung der DDR“ stand insgesamt zur politischen Disposition der SED-Instanzen – gleichgültig, ob Straf-, Zivil-, LPG- oder Arbeitsrecht. Nur soweit die Instanzen der Partei von ihren verdeckten Machtbefugnissen keinen Gebrauch machten, regelte sich auch in der DDR das private und öffentliche Leben nach den Normen des überkommenen oder neugeschaffenen Rechts.

Wer in Ansprich nimmt, sich zur Rechtswirklichkeit der DDR zu äußern, kommt nicht umhin, über die zentralen Leitungs- und Entscheidungsgremien der Partei und die Mechanismen zu berichten, mit deren Hilfe jenseits der geschriebenen Verfassung Recht gesetzt und gebrochen wurde.

Das Autorenkollektiv hat hingegen die seit fünf Jahren offenen Archive der DDR gescheut wie der Teufel das Weihwasser. Wie eh und je beschränkte es sich auf jene Quellen, die es seit 40 Jahren heranzuziehen gewohnt war: das offizielle Schriftgut der DDR-Justiz und ihrer Rechtswissenschaft sowie SED-Parteitags- und ZK-Plenumsprotokolle. In den Quellenverzeichnissen erscheint kein einziges unveröffentlichtes Urteil, kein einziger zu DDR-Zeiten unveröffentlichter Politbürobeschluß, kein einziges Dokument der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen, dem wirklichen Justizministerium – geschweige denn, daß beispielhaft Untersuchungsvorgänge des MfS herangezogen worden wären.

Dieses für eine rechtsgeschichtliche Arbeit eklatante Defizit hätte zumindest in beschränktem Maße ausgeglichen werden können, wenn einige Autoren ihr aus der praktischen Arbeit gewonnenes „Wissen“ über die konkrete Gestaltung der Rechtswirklichkeit der DDR offengelegt hätten.

Wer an der verdeckten Justizpraxis beteiligt war – wie zum Beispiel Klaus Heuer als Mitarbeiter der ZK-Abteilung Staat und Recht oder Erich Buchholz als Mitglied einer Justizbrigade, die 1962 im ZK-Auftrag die Rechtssprechung des Obersten Gerichts und einiger Bezirks- und Kreisgerichte überprüfte, in deren Folge Richter gemaßregelt wurden –, hätte in diesem Band, ohne Archivstaub schlucken zu müssen, über die Hinterbühne der DDR-Verfassung und Justiz immerhin Teilauskünfte geben können. Und gleichermaßen gilt dies für Rechtswissenschaftler, die dem MfS in konkreten operativen Vorgängen mit Gutachten zugearbeitet haben.

Doch diese Funktionen in Parteigremien, die – wenn es darauf ankam – weit mehr die Rechtswirklichkeit der DDR bestimmt haben als alle in den DDR-Verfassungen benannten Institutionen des formellen Rechtssystems, bleiben unangesprochen.

Das so gewonnene, von Heuer gelobte praktische „Wissen“ wird nicht preisgegeben, sondern nach dem Untergang der DDR exklusiv die Rolle des mit den Niederungen der Praxis unbefaßten Wissenschaftlers herausgekehrt. Die in der ersten Zeile des Bandes reklamierte „Aufrichtigkeit“ stößt auf Grenzen.

Gewiß: der Band enthält – je nach Autor und Rechtsgebiet auch kräftige kritische Töne, so zum Beispiel in Luthers Beitrag zum Strafprozeßrecht oder F. Müllers Darstellung des Gerichtsverfassungsgesetzes. Wären diese Texte 1980 in der DDR erschienen, hätten sie Aufmerksamkeit beanspruchen können. Doch fünf Jahre nach Öffnung der Archive und der Chance, ohne Furcht vor Parteistrafen über Einblicke in die DDR-Rechtspraxis offen publizieren zu können, ist das, was die Autoren anzubieten haben, hoffnungslos hinter dem erreichten Forschungsstand zurück.

Mithin: Der Band stößt auf systematische, biographiebedingte Grenzen, die uns aus den Anfängen der Forschung in der alten Bundesrepublik zur Justiz der NS- Zeit vertraut sind. Zu Beginn der siebziger Jahre mußte das „Institut für Zeitgeschichte München“ vor Projektabschluß eine unter Federführung von Weinkauff begonnene Reihe zur Justizgeschichte der NS-Zeit einstellen. Ihre Autoren, überwiegend einst in der NS- Zeit praktizierende Juristen, hatten ebenfalls nicht jene wissenschaftliche Unbefangenheit zum Gegenstand aufbringen können, die eine neue Generation seit den sechziger Jahren lautstark und schließlich erfolgreich abforderte. Das Weinkauff-Projekt war als Gesamtunternehmen bereits wissenschaftlich erledigt, bevor es beerdigt wurde.

Zurück zum hier zu besprechenden Band. Wer sich über die rechtliche Fassade der DDR sachkundig machen will, ist besser bedient, auf den Ramschtischen vor der Humboldt-Universität die bis 1989 erschienenen Werke der AutorInnen dieses Sammelbandes zu kaufen. Sie geben weitaus detaillierter Auskunft über alte Ansprüche der DDR-Rechtsordnung als die Darstellungen dieses Sammelbands.

Wer aber erfahren möchte, was die Wirklichkeit des DDR-Rechts war, kann getrost an den Ramschtischen und an diesem Sammelband vorbeigehen. Empfohlen sei er aber jenen, die sich für Mentalitäten machtlos gewordener Funktionseliten und die Grenzen selbstkritischer Einsicht bei Menschen interessieren, die im Herbst ihres Lebens den Zusammenbruch ihres Lebenswerkes verdauen müssen.

Uwe-Jens Heuer (Hrsg.): „Die Rechtsordnung der DDR – Anspruch und Wirklichkeit“. Nomos Verlag, Baden-Baden 1995, 630 Seiten, 88 DM (Hardcover), 58 DM (Paperback).

Der Autor hat ein Buch über die Justiz in der Ulbrichtzeit im Christoph Links Verlag veröffentlicht. Wir werden es demnächst vorstellen.