■ Wie die Deutschen lernten, die Atombombe zu lieben
: Hiroshima mon amour

Im Mai 1945 war Deutschland besiegt und alles vorbei. Den Krieg verloren, den Glauben auch, vielleicht sogar alle Zukunft. Schlimmer noch als der verlorene Krieg das Wissen, daß die barbarischen Deutschen fast alle Juden ausgerottet hatten. Die Sieger zeigten den Besiegten, wieviel sie erreicht hatten, führten sie in die Konzentrationslager, zu den paar Überlebenden, ließen sie die Leichen verscharren, und wer zu weit entfernt von den Schädelstätten wohnte, wurde gezwungen, sich wenigstens in der Wochenschau anzusehen, was er millionenfach mitgemacht hatte.

Drei Monate nach der Kapitulation des Deutschen Reiches zündeten die Amerikaner über Hiroshima die Atombombe und vernichteten auf einen Schlag 90.000 Menschen. Drei Tage später das gleiche noch mal: Eine Bombe reichte aus, um 70.000 Menschen umzubringen. Aufgabe: Berechnen Sie, wie viele Uran-235-Bomben der Sprengkraft von Nagasaki benötigt werden, um ebenso viele Juden umzubringen wie die Deutschen zwischen 1933 und 1945?

Drei Monate nur mußte sich Deutschland schuldig fühlen, drei Monate war es das schlimmste Verbrechervolk in der Menschheitsgeschichte, aber das ging vorbei. Hatten die Amerikaner nicht bewiesen, daß auch sie um einer Idee willen bereit waren, Millionen von Menschen umzubringen?

Die Atombombe war das erste Carepaket. Kaum war es abgeworfen, begann das „Denken im Schatten der Bombe“. „Heller als tausend Sonnen“ strahlte ihr Glanz, und der blendete Auschwitz und Mauthausen und Bergen-Belsen leicht weg. Günther Anders führte eine offene Korrespondenz mit einem der Atom-Piloten über „jenen Riesendämon, der unsere Zukunft beschattet“. Soviel Entlastung war nie.

Winston Churchill verlor im Juli 1945 die Unterhauswahlen und begann sofort den nächsten Wahlkampf. Der handelte von den Kriegsfolgen, davon, daß „von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria über ganz Europa ein Eiserner Vorhang niedergegangen“ war. Deutschland, das arme, besiegte, verachtete Deutschland, fand sich unversehens auf der richtigen Seite, bei den Siegern. Und es erfüllte sich der Traum der Attentäter vom 20. Juli 1944: Deutschland zog in den Kalten Krieg gegen den Kommunismus.

Deutschland mußte unbedingt wiederbewaffnet werden. Zum Glück stand der Feind immer noch im Osten. Die Bombe wurde zum wichtigsten Gründungsmythos im neuen Deutschland. Die Bombe sorgte für die Blockbildung, und Deutschland (West) stand ausnahmsweise und frisch reingewaschen auf der Seite der Guten. Beim Nürnberger Tribunal wurden die Chefs verurteilt, dem Volk der Mitläufer und Mitmacher mußte kein Leid mehr geschehen.

Ein Landgerichtsdirektor aus dem Bayrischen, der im Frühjahr 1933 zum Schutz von Volk und Reich in die Partei eingetreten war, forderte 1946 in der Anlage zu seinem Fragebogen das Nächstliegende: „Einmal muß mit diesem Dreck Schluß sein.“

Besser als jede Spruchkammer sorgte die Bombe für diese Bewältigung der Vergangenheit. Es gab keine Verbrechen mehr, es gab nur noch Deutsche, die sich nichts vorzuwerfen hatten. Die Bombe schlug alles. Was schließlich war die Vernichtung der Juden gegen die mögliche atomare Weltvernichtung?

Ohne die Bombe hätte es diese herrlich funktionierende Bundesrepublik Deutschland nie gegeben. Man muß sich das einmal vorstellen: kein Wirtschaftswunder ohne Hiroshima, kein Italienurlaub ohne Nagasaki. Alles, was Hitler versprochen hatte – Kraft durch Freude, der Volkswagen, das Häuschen im Grünen –, erfüllte sich nach seinem Heimgang doch noch. Und das beste dabei: Wer von der Bombe redete, durfte vom Holocaust schweigen.

Die Bombe wird fünfzig. Einen Toast, Herrschaften, bitte, sich zu erheben: Wir haben ihr alles zu verdanken. Willi Winkler

Journalist, lebt in Hamburg