■ Die Gesellschaft wartet stumm auf ein rettendes Ereignis. Der Pazifismus ist geschmolzen wie der Schnee von gestern.
: Der große Stumpfsinn

„Der große Stumpfsinn“ heißt das Kapitel im „Zauberberg“, in dem die Tage unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschildert werden. Betrachten wir den „großen Stumpfsinn“ als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Kriegsbereitschaft, dramatisieren wir die Sache also nicht unnötig – diese Bedingung ist erfüllt: Fünfzig Jahre nach dem letzten Krieg strotzt unsere Gesellschaft vor Wohlstand, ist sie bewegungslos durch Verfettung, atmet sie in ihrem Übergewicht schwer unter der Sommerhitze und sehnt sich nach einem Ereignis, durch das das Fett ausgelassen wird. Sie sehnt sich nach dem Element der Notwendigkeit, nach ein bißchen Not, nach einer Situation, in der es lohnt, sich auf der Straße nach einer Schraube zu bücken. Auf allen Familien, auf allen Beziehungen lastet die Abgeschlossenheit und Fertigkeit der Verhältnisse, das Gefühl von rien ne va plus.

Man ahnt dumpf, daß das Leben wieder schwer werden muß, damit es gut sein kann. Der Kulturbetrieb ist erlahmt, alle Reize sind stumpf geworden, die intelligentesten Zeitschriften können keine Kontroverse mehr hochreißen, es gibt kein Spannungsfeld mehr für Diskussionen – alles wartet stumm auf ein rettendes Ereignis.

Hegel sagte, daß eine Gesellschaft, die nicht in regelmäßigen Abständen vom Krieg geschüttelt wird, anfängt zu faulen wie ein tiefliegender See, über den nie der Wind geht. Das wird gegenwärtig empfunden. Die mentalen Voraussetzungen für Krieg sind vorhanden. Der Pazifismus ist dahingeschmolzen wie der Schnee von gestern. „Schwerter zu Pflugscharen“ gilt nicht mehr. Es besteht ja auch kein Mangel an Pflugscharen. Auch die Grünen haben mittlerweile umgedacht, und es gibt wahrscheinlich nur noch ein paar Zeugen Jehovas, die der Idee der Gewaltlosigkeit die Stange halten werden. Der Pazifismus ist so altmodisch geworden wie Birkenstocksandalen und Wollsocken.

Tatsächlich stellen die ehemaligen Linken, die (jedenfalls außenpolitisch) früher streng pazifistisch dachten, das gefährlichste kriegstreibende Potential dar. Wer sich mit fünfzig erstmalig unter den Einfluß von Gott Mars begibt, wird von der Erotik dieser speziellen Aura ganz unvorbereitet erfaßt. Die Männlichkeit bekommt noch einmal ihre Chance und ergreift sie: Nirgends wird so eilig beteuert, man sei kein Pazifist, wie in diesen Kreisen; man sehe sehr wohl ein, daß der Krieg ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens sei!

Eine besonnenere und abwägendere Haltung als die Kriegsdienstverweigerer der 60er Jahre haben heute die Militärs. Bevor sie rufen, man dürfe nicht tatenlos zusehen, fragen sie sich, welche Taten denn überhaupt hilfreich sein könnten. „Eingreifen“, „Intervenieren“ sind für sie inhaltgefüllte Wörter und nicht lediglich emotionale Stoßrichtungen. Man hört alte, kriegserfahrene (und nach wie vor -begeisterte) Hasen vor einem Einsatz in Bosnien warnen, während die militärisch ahnungslose mittlere Generation ins Kriegshorn tutet.

Wenn militärische Aktionen jetzt wieder sozial akzeptabel werden, hat sich ein großes Vergessen über deren Charakter ausgebreitet. Das Unangenehme am Krieg ist ja die Tatsache, daß man ihn nicht einseitig dann beenden kann, wenn man sein Ziel erreicht hat, sondern daß er eine Eigendynamik mit unabsehbaren Folgen entwickelt und eventuell – ganz gegen die Absicht derer, die ihn vom Zaun gebrochen haben – dreißig Jahre dauern kann. Wo sind die systemtheoretischen Warner gegen das eindimensionale Denken in nur scheinbar folgerichtigen Ursachenketten, die das Explosive, Komplexe, Unberechenbare der Vorgänge so wortreich geschildert haben? Wo sind die Militär- und Friedensforscher, die jahrzehntelang Zeit hatten, sich über diese Fragen Gedanken zu machen? Sie haben jetzt ihre Stunde.

Als ich eine vor Alter schon krummgezogene, aus einem Soldatengeschlecht stammende Gräfin fragte, was sie von einem Einsatz in Bosnien halte, fragte sie zurück: „Ja, wollen wir denn Krieg?“ – „Nein, natürlich nicht!“ antwortete ich. „Man will ja nur den Bosniern durch eine Intervention helfen.“ Da sagte die alte Frau: „Nein, nein, man muß sich fragen, ob man notfalls auch im eigenen Land Krieg haben will. Der Krieg läßt sich nun einmal nicht eingrenzen, der macht, was er will.“

Diese Frau, am Grabesrand stehend, braucht offenbar keinen Krieg zur Lösung ihrer Probleme und leistet sich deshalb den offenen Blick auf das, was man schon immer über ihn weiß.

Wir stehen im Bann eines Wiederholungszwanges. Wieder lassen wir uns von dem kriegerischen Geist, der in dem Grenzbereich der europäischen und orientalischen Kultur überwintert, infizieren. „Man darf nicht tatenlos zusehen“ – so manchem haben wir tatenlos zusehen können, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Macht es wirklich einen Unterschied, daß sich die Ereignisse in Europa abspielen – macht nicht, im Gegenteil, diese Tatsache einen Einsatz nur noch problematischer?

Die Sehnsucht nach einem Ventil für die innergesellschaftliche Spannung läßt nicht zu, daß die Gefahr eines Balkaneinsatzes realistisch erörtert wird: die Gefahr überraschender Bündnissysteme, die Gefahr von Domino- und Schneeballeffekten. Dabei melden sich die denkbaren Bündnispartner ja schon. Wie schon lange zu erwarten war, gibt es deutliche Signale aus der muslimischen Welt, daß man den Glaubensbrüdern beispringen will – und die Rückenstärkung, die die Serben durch die Russen erhalten, ist ja auch keineswegs überraschend. Der Panslawismus, der am Ende des vorigen Jahrhunderts so machtvoll aufgerauscht ist und dann von der kommunistischen Bewegung überlagert wurde, hat ja – im Unterschied zum gleichzeitig anlaufenden Pangermanismus – seine historische Chance noch nicht gehabt.

Das Wort „Sarajevo“ löst keine Abgrenzungsimpulse aus, sondern entfaltet eine süße Anziehungskraft. Wieder fehlt der Gesellschaft das, was man im Ersten Weltkrieg den „tiefen Celloton des Lebens“ nannte. Lesen wir in diesen Tagen die Tagebucheintragung von Käthe Kollwitz, in der sie den letzten Julisonntag 1914 beschreibt: „Ein etwas langweiliger Tag. Ein Tag, bei dem mir Tage zu Hause einfielen, die bleiern und langweilig waren. Ich besinne mich genau auf das Empfinden, das ich oft zu Hause hatte, den Wunsch fortzukommen, nur um anders und mein eigenes Leben zu leben. Nur nicht in dem hergebrachten fertig eingelebten Stil weiter. Die Stuben waren mir nicht mehr zum ansehn.“

Genauso sah es bei mir am letzten Julisonntag aus – vielleicht ging es anderen genauso. Blättern wir in Käthe Kollwitz' Tagebuch weiter, so finden wir unter dem 6. August (nach Kriegsausbruch) diese Eintragung: „In den ersten Tagen vergaß ich oft den Krieg oder hatte das Gefühl: so: nun ist es genug mit dem Druck, jetzt kann wieder gelebt werden. Als ob man von drückendem Traum erwacht. – Aber ich empfand in jener Zeit auch ein Neu-Werden in mir. Als ob nichts der alten Werteinschätzungen noch standhielte, alles neu geprüft werden müßte. Ich erlebte die Möglichkeit freien Opferns.“

Wie man weiß, hat Käthe Kollwitz von dieser Möglichkeit denn auch Gebrauch gemacht und ihrem 18jährigen Sohn die Erlaubnis zu einer Freiwilligenmeldung gegeben – sein Abbild ruht jetzt in der Berliner Neuen Wache in ihrem Schoß. Das Fehlen dieser Opfermentalität, die im Ersten Weltkrieg erwachte, ist die einzige Hoffnung, die wir jetzt haben. Die Jugend – diejenigen, die die Taten vollbringen müssen, wenn „wir“ nicht tatenlos zusehen wollen – ist töricht und willfährig, von ihr ist kein Widerstand zu erwarten. Aber es fehlt in unserer Kultur die Wertschätzung des Blutopfers. Der Ruf von Botho Strauß nach solchen Opfern für die Volksgemeinschaft wurde als geschmacklos zurückgewiesen.

In Amerika spricht man von einer „Powell-Doktrin“ und meint damit: Keine Verluste in der eigenen Truppe! Sonst nämlich geht der Krieg an der Heimatfront, in der öffentlichen Meinung, verloren. Das Käthe-Kollwitz-Syndrom war das vorübergehende Aufflackern eines Atavismus. Historisch steigt die Wertschätzung des unersetzbaren Individuums weiter. Die von Albert Schweitzer so genannte „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat zugenommen. Solange eine Gesellschaft den Gedanken an body- bags, an fahnengeschmückte Zinksärge, nicht ertragen kann, solange ihre Mütter nicht bereit sind, die Todesanzeigen für ihre Söhne mit der Formel „In stolzer Trauer“ zu unterzeichnen, ist sie vor der Kriegsseuche einigermaßen geschützt. Sibylle Tönnies

Publizistin, lebt in Eutin in Schleswig- Holstein