Ein Land im Schmetterlingsrausch: Millionen von Pfauenaugen der Gattung Inachis Io schweben durch Gärten und Stuben. Im Oldenburgischen zählten Falterwächter binnen einer Stunde 831 Exemplare. Auch der Distelfalter, der Admiral und Trauerma

Ein Land im Schmetterlingsrausch: Millionen von Pfauenaugen der Gattung Inachis Io schweben durch Gärten und Stuben. Im Oldenburgischen zählten Falterwächter binnen einer Stunde 831 Exemplare. Auch der Distelfalter, der Admiral und Trauermantel wurde gesichtet. Woher kommt die plötzliche Massenvermehrung? Ute Scheub war mit dem Schmetterlingsnetz unterwegs.

Invasion der Schönheit

Eine Welle der Schönheit wogt durch das sommerliche Land. Millionen Schmetterlinge, vor allem Tagpfauenaugen, flattern derzeit durch Gärten, Wiesen und Felder bis hinein in unsere gute Stube. Es flirrt und schwirrt, gaukelt und schaukelt. Auf den Flügeln blitzen wie aus rotbraunem Samt schwarzbläulich vier Augen: perfekte Mimikry für feindliche Vögel, die zuerst in die Flügel und nicht in den zarten Leib hacken.

Selbst die steinernen Herzen der Großstädte werden lebendig. Vor allem in Berlin, aber auch in Hamburg oder Bremen verirren sich die Tierchen täglich halbdutzendweise in Büros und Wohnungen. Kläglich kleben sie dann an den Fensterscheiben, mit verzweifeltem Flügelschlag einen Ausweg suchend, bis mitleidige Menschen sie in einem Trinkglas fangen und nach draußen befördern.

Die Invasion der Pfauenaugen scheint sich vor allem im Norden abzuspielen. Berlin, Brandenburg, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt melden dichtes Geflatter. Aufgeregte BewohnerInnen berichten von „ganzen Schwärmen“ in den Berliner Randbezirken. Von der Nordseeküste bei Wilhelmshaven bis nach Oldenburg sei ein „massenhafter Einflug“ von Tagpfauenaugen, Kohlweißlingen und Zitronenfaltern zu beobachten, gibt die Bezirksgruppe Oldenburger Land des Naturschutzbundes bekannt. An einem Zählpunkt seien binnen einer Stunde 831 einfliegende Pfauenaugen notiert worden.

Aber auch im Süden wird aus dem Altmühltal oder aus Baden- Württemberg eine Falter-Flut gemeldet. „Bei uns hat sich gestern ein Pfauenauge bis in den Senderaum hineingeschlichen“, vermeldet ein Mitarbeiter eines Ulmer Alternativradios, „danach wollte es sogar an den Getränkeautomaten.“

Warum nur diese plötzliche Invasion? Schmetterlingsexperten – die vorwiegend der männlichen Gattung angehören und meistens schon als kleine Jungs Falter gesammelt und aufgespießt haben – machen vor allem das Wetter verantwortlich. Erstens, so Professor Klaus Werner Wenzel vom Berliner Schmetterlingshaus, stehe die Brennessel, die Futterpflanze der Raupen, in diesem Jahr besonders gut. Zweitens habe die Kälteperiode bis Juni vielen Feinden des Tagpfauenauges den Garaus gemacht: der Schlupfwespe „sturmia bella“ und der Kleinfliege „phryxis vulgaris“, die als Parasit in der lebenden Raupe ihre Eier ablegt.

Eine nur um wenige Prozent reduzierte Zahl von Feinden reicht dabei nach Beobachtung des Insektenkundlers Reinhard Gaedike vom Entomologischen Institut in Eberswalde schon aus, um eine Massenvermehrung der Falter auszulösen: Wegen des Parasitenbefalls „entstehen normalerweise aus nur drei Prozent aller gelegten Eier überhaupt Schmetterlinge“. Gaedike vermutet noch eine weitere Ursache für die Massenflatterei: die Brachflächen, die vor allem in der ehemaligen DDR entstanden und zu neuen Schutzräumen für Fauna und Flora wurden. Späte Erfolge des Sozialismus.

Hubert Weinzierl, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), sieht in der gegenwärtigen Flatterlust ebenfalls „erste Erfolge der Flächenstillegungs- und Randstreifenprogramme“. Für diese Einschätzung spricht, daß neben Tagpfauenauge, Kleinem Fuchs und Kohlweißling auch andere, selten gewordene Arten wie Distelfalter oder Admiral, Schwalbenschwanz oder Trauermantel sich vermehrt in die Lüfte schwingen.

Wird die Bundesumweltministerin also alsbald in Jubel über ihre erfolgreiche Naturschutzpolitik ausbrechen? Zur Entwarnung bestehe keinerlei Anlaß, finden die Experten. Etomologe Gaedike mag gerade mal davon sprechen, daß „die Gefährdung insgesamt nicht größer geworden ist“.

Auch der Biologe Ingolf Rödel, der im Zeichen des Biotopschutzes nächtens an Brandenburger Tümpeln Falter zählt, befindet, daß die Falter-Flut „auf keinen Fall“ als Erholung der Natur gedeutet werden dürfe. Zwar seien Schmetterlinge „Bioindikatoren“, die anzeigen, wie gut oder schlecht es um Artenvielfalt oder Bodenbelastung steht. Aber „Pionierarten“ wie das Tagpfauenauge, der Kleine Fuchs oder das Landkärtchen zählten nicht dazu, weil sie sich schnell ausbreiten und neue Lebensräume bis hinein in die Städte erobern. Flugaktiv und nicht standorttreu, sind sie wegen ihrer Flexibilität „kaum gefährdet“. Außerdem sei die diesjährige Falterinvasion so völlig ungewöhnlich nicht: „Populationsschwankungen von Jahr zu Jahr sind völlig normal.“

Die Erklärung dafür ist ziemlich einfach: Mit der Anzahl der Schmetterlinge steigt auch die Anzahl ihrer Feinde, die sie dezimieren. Die Population sinkt folglich wieder, damit aber auch die Zahl der Parasiten. Und schon beginnt der Reigen von vorn, etwa alle fünf Jahre. 1981 zum Beispiel, erinnern sich die Falterfreunde, gab es wahre Wolken von Distelfaltern, 1993 war das Jahr des Kleinen Fuchses, der dafür heuer eher selten fliegt. Die Schwankungen machen es schwer, die wahre Gefährdung einzelner Arten einzuschätzen. „Man muß sie über viele Jahre an einer Stelle beobachten“, weiß Insektenforscher Gaedike.

Was nicht heißen soll, daß nun jeder von Pfauenaugen heimgesuchte Haushalt eine Forschungsstelle aufmachen soll. Die samtbraunen Schönheiten landen in unseren Badezimmern, Kellern und Garagen, weil sie an dunkle und kühle Orte fliegen, um zu überwintern. „Ab September oder Oktober sollte man sie hängen lassen“, rät Biologe Rödel. „Aber wenn sie schon jetzt in die Winterstarre fallen, ist das viel zu früh. Dann haben sie nicht genug Reserven, um den Winter zu überleben. Besser, man setzt sie an die Luft.“

Bei den alten Griechen wurde Psyche (die Seele) als Schmetterling oder als zartes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln verkörpert. Der Dichter Apulejus erzählt, wie Amor sie nachts unerkannt im Dunkeln besuchte. Psyche aber hält sich nicht an den Götterbefehl, ihren schönen Geliebten nicht ansehen zu dürfen. Amor flieht. Erst nach vielen Abenteuern und Prüfungen kann sie im Beisein aller Götter Hochzeit mit ihm feiern. Wenig später gebiert sie ihm eine Tochter: Voluptas, die Lust. Wer kennt diese Lust nicht, wenn er oder sie verliebt ist: Schmetterlinge im Bauch. Besonders Glückliche haben sie im Bauch und im Badezimmer.