Jünger, reicher, demokratischer

Rußlands Jugend hält wenig von Parteipolitik, aber viel von wirtschaftlichen Reformen. Für einige wenige gilt jedoch: „Der Kapitalismus ist Scheiße.“  ■ Aus Moskau Sonja Zekri

Der Ort ist mit Bedacht gewählt. Für eine Konferenz über „Die Linke als Mittel gegen die Alterserscheinungen des Kommunismus“ konnte es kaum einen besseren Platz geben als das Moskauer Museum von Wladimir Majakowski, Symbol der Revolution und Symbol der Jugend gleichermaßen. Unter denen, die in der Gedenkstätte des Dichters ihre Flugblätter auslegen, sind Anarchisten wie Ljuba – „Ich bin gegen jeden Staat, besonders gegen diesen“ –, Kommunisten wie Alexej – „Ob Monarchie oder Duma, das ist doch eine Rückkehr zur Vergangenheit“ – und sogar ein verirrter Faschist. Im Keller, unter einem roten Banner kritisiert ein junger Mann in schwarzer Kleidung schonungslos die russische Gesellschaft. Die Zahl seiner Zuhörer liegt bei etwa zwanzig, das Durchschnittsalter ebenso.

Initiator dieser schrägen Inszenierung ist eine Organisation, die seit ihrer Gründung vor gut einem Jahr stets durch ihre Lust an der Provokation auffiel: „Studentscheskaja Zaschita“, die Studentengewerkschaft. Sie ist Produkt und Sammelbecken von Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten und „Narodnikis“, den „Volkstümlern“. Der „Studentenschutz“ gilt als repräsentativstes Organ der Jungakademiker und wird in der Presse sogar als Vorbote einer Jugendbewegung im Stile der französischen 68er Revolte gehandelt. Auch wenn dafür bei 5.000 Mitgliedern in ganz Rußland noch die Masse fehlt, an Mut mangelt es nicht. Im Frühjahr letzten Jahres sammelten sich 3.000 Studenten auf dem Neuen Arbat, einer der zentralen Magistralen der Stadt. Erst zerschlugen einige von ihnen die Scheiben ausländischer Autos, dann marschierten alle gemeinsam zum Roten Platz und lieferten sich Gefechte mit den wartenden Omon-Einheiten.

Besonders stolz ist Dmitri Petrow, der redegewandte Leiter der 150 Mitglieder starken Moskauer Sektion, auf eine Demo im letzten Herbst: „Mitten im Zentrum hatten wir uns versammelt, eines unserer größten Transparente mit weißen Buchstaben auf schwarzem Grund lautete: „Der Kapitalismus ist Scheiße!“

Die aufsehenerregenden Aktionen der Studentengewerkschaft, die sich vor allem gegen die katastrophalen Studienbedingungen richten, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der durchschnittliche Jugendliche in Rußland von der Politik vor allem eines will: seine Ruhe. 70 Prozent der jungen Staatsbürger äußerten sich nach Umfragen desinteressiert am politischen Leben, erst recht an sowjetischer Ideologie, nur knapp 3 Prozent würden sich aktiv engagieren. Die Verweigerung der unter 30jährigen ist nicht nur ihre Version des allgemeinen Rückzugs ins Private, Rußlands Jugend hatte nie politischen Einfluß. Die Perestroika war kein Generationenwechsel, sondern nur eine Umverteilung der Macht unter alten Männern. Nach wie vor ist die politische Klasse Rußlands eine geschlossene Gesellschaft, auf die die Jugend je nach Mentalität und Bildung mit Desinteresse oder Extremismus reagiert.

Zugegeben, seit einiger Zeit lassen sich in der Regierung Ansätze einer Jugendpolitik ausmachen: 1992 wurde das Komitee für Jugendangelegenheiten gegründet, seitdem entstand gut ein Dutzend Gesetze zur Förderung des Nachwuchses, etwa über Ehe und Familie, Wohnungsbau und Ausbildung. 21 Milliarden Rubel, etwa 8 Millionen Mark, sind im 95er Budget vorgesehen für den sozialen Schutz der Jugend, die Unterstützung nichtstaatlicher Organisationen und vieles mehr. Wieviel davon übrigbleibt – vor allem angesichts der ständig wachsenden Kosten für den Krieg in Tschetschenien –, weiß niemand.

Die Kaukasus-Aktion hat aber noch einen anderen, langfristigeren und weit bedenklicheren Effekt. Abend für Abend verfolgen die jungen Russen im Fernsehen, wie Soldaten ohne Ausbildung und Erfahrung, nicht älter als sie selbst, in einen sinnlosen Tod gehetzt werden; ein Menschenleben, auch ein junges, so scheint es, zählt im heutigen Rußland so wenig wie zu Zeiten der Sowjetunion. „Wenn man heute die Studenten fragt: ,Fühlt ihr euch als Teil von etwas und, wenn ja, wovon?‘“, so Studentengewerkschaftler Dimitri, „dann wissen sie nicht, was sie sagen sollen.“ Kurz nach Ausbruch des Krieges demonstrierten Mitglieder der Studentengewerkschaft mit den Soldatenmüttern vor dem Verteidigungsministerium. Es ist ein offenes Geheimnis, daß viele Studenten allein deshalb eingeschrieben sind, weil sie so die Wehrpflicht umgehen können.

Alexej Zuew scheint eine Ausnahme zur Antihaltung der meisten Jugendlichen zu sein. Mit 24 Jahren ist er der jüngste Abgeordnete der Staatsduma, Bauchansatz und schütteres Haar machen ihn freilich gut zehn Jahre älter. Seine politische Karriere begann durch Zufall. Eine Ausbildung dafür hat er nicht, im Komsomol war er nicht, und vor den letzten Wahlen arbeitete er in einem Finanztrust. Da fragte ihn der Freund eines bekannten Politikers, ob er nicht für seine Partei kandidieren wolle. Der Politiker war Wladimir Wolfowitsch Schirinowski.

Seitdem ist Alexej seinem politischen Mentor sehr, sehr dankbar. Zuew will der Jugend nicht mehr Einfluß erkämpfen, er möchte nur im bestehenden System einen Platz finden: „Wichtig ist, daß die Bande zwischen Alten und Jungen nicht abreißen.“ Alexej Zuew mag klare Verhältnisse. Deshalb wird er ärgerlich, wenn er den Fernseher einschaltet. „Die einen berichten dies über Tschetschenien, die anderen das. So etwas darf nicht sein“, kritisiert er. Schon möglich, daß unterschiedliche Meinungen im Westen normal seien, gibt er zu, aber: „Wir haben eben unsere eigenen Besonderheiten.“

Ja, Wladimir Wolfowitsch kümmert sich um die Jugend. Zwar findet er unter den Studenten wenig Anhänger, aber insgesamt soll die Moskauer Jugendsektion seiner „Liberaldemokraten“ bereits 300 bis 400 Aktivisten zählen. Diese „Falken“ gehen für Schirinowski durchs Feuer oder wohin er sie sonst schicken mag: Im letzten Herbst kündigten sie einen Flug in den Irak an, um Saddam Hussein zu unterstützen. Die Sache entpuppte sich als Finte, aber die Falken hatten erreicht, was Schirinowki wollte: Schlagzeilen. – Der „Liberaldemokrat“ ist nicht der einzige rechte Rattenfänger, der auf die Jugend setzt. Noch immer hat auch der Ultranationalist Alexander Barkaschow von der „Russischen Nationalen Einheit“ Jugendliche unter Waffen. Insgesamt, so brüstete er sich in einem Interview, verfüge er in ganz Rußland über eine Truppe von 15.000 Leuten – aus allen Altersschichten.

Hinter dieses Werben der Rechten fallen die Demokraten weit zurück. Erst vor ein paar Monaten gründete „Jabloko“-Chef Grigori Jawlinski die Jugendsektion seiner Partei. Fast zeitgleich organisierte sich der demokratische Klub „Freie Generation“, den Jegor Gaidar („Rußlands Wahl“) unterstützt. Das Versäumnis der Demokraten ist um so weniger zu rechtfertigen, als Jawlinski und Gaidar am ehesten positive politische Leitfiguren für die Jugendlichen abgeben könnten. Sie sind die populärsten Politiker unter den jungen Wählern.

Im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern zeigen diese ohnehin mehr Sinn für Demokratie. Auf politische Unruhen reagieren die bis 25jährigen mit der Forderung nach Gewaltlosigkeit und Achtung der Verfassung, so zeigt das Monitoring des Gesamtrussischen Zentrums für die Erforschung der öffentlichen Meinung (Vtziom). Dagegen steigt der Wunsch nach einer Diktatur fast in gerader Linie mit dem Alter. Je größer die Last der Jahre, desto größer die Schwierigkeiten, sich an die Umbrüche anzupassen, und desto stärker die Sehnsucht nach einer starken Hand.

Tatjana Petrowna, Soziologin im Staatlichen Jugendkomitee und selbst knapp über 30 Jahre, kann für die Alten, die in blinder Nostalgie oder nörgelnder Kritik an „denen da oben“ steckenbleiben, kaum Mitleid empfinden: „Wenn sie erzählen, wie gut sie unter Breschnew gelebt haben, was soll man darauf sagen? Daß sie für Wurst mit Mehl in der Schlange gestanden haben und jedes kritische Wort nur leise in der Küche gesprochen haben?“ Andererseits, so Tatjana, haben diese Menschen alles verloren, das Land, in dem sie lebten, und auch ihre Arbeit. „Natürlich haben es diejenigen besser, die davon nicht betroffen sind. Natürlich ist heute die Zeit der Jugend.“

Die neunziger Jahre sind die Zeit der Jugend, weil diese auf Eigenschaften zurückgreifen kann, die unverzichtbar für die halsbrecherischen Kurven des Post-Perestroika-Rußland sind: Flexibilität, Risikobereitschaft und Schnelligkeit. In der privaten „Russischen Schule junger Manager und Unternehmer“ sitzen diejenigen, die davon mehr als ihre Altersgenossen haben. „Hauptsache, man ist gesund, dann kann man alles schaffen“, sagt der 19jährige Sascha. Die elegante Mascha sitzt in der letzten Reihe. Sie ist 22 Jahre alt, hat ein Kind und ein eigenes Busineß. „Im Immobiliengeschäft verdiene ich mehr als mein Mann“, sagt sie und zieht den Pelzmantel enger um die Schultern. „Ihm gefällt das.“

Nicht viele junge Leute haben soviel Glück wie Mascha, aber alle träumen davon. Galten früher Verkäufer oder Arzt als gute Jobs, so wollen die jungen Russen nur noch eines werden: Broker, Finanzier oder zumindest Buchhalter. Und die meisten tun auch etwas dafür: Die etwa 350 Privatuniversitäten und -schulen befriedigen kaum die Nachfrage. Begehrt sind Fächer, die für eine Busineßlaufbahn qualifizieren: Fremdsprachen, Jura, Betriebswirtschaft. An den staatlichen Hochschulen haben sich die Anmeldungszahlen für diese Bereiche in den letzten acht Jahren verdoppelt, während das Interesse an Ingenieur-, Agrarstudiengängen und Medizin um fast 40 Prozent sank.

Rußlands Jugend mag wenig Interesse an der Politik haben, aber die Reformen können ihr nicht schnell genug gehen. Sie fühlt sich bereits jetzt als Sieger. In einer Vtziom-Umfrage vom Dezember des letzten Jahres gaben die unter 30jährigen ein durchschnittliches Monatseinkommen von 219.000 Rubel an, mehr als alle anderen. Sie arbeiten länger in einem Nebenjob und verdienen dabei mehr als die anderen. Sie sind nicht wählerisch. Wenn es für den Managerposten nicht reicht, verkaufen sie Snickers oder Spielzeug, werben für Lottoscheine oder sitzen in Kiosken.

Ohne Geld läuft nichts, das lernen bereits die ganz Kleinen: Sechsjährige, die in Metroschächten Zeitungen verkaufen, Schulkinder, die Autos waschen. „Detji- dobytschije“ werden sie genannt, „Kinder-Verdiener“. 1,5 Millionen, 7,5 Prozent aller russischen Kinder, gingen im letzten Jahr nicht zur Schule.

Und sie alle kommen dabei oft, sehr oft mit dem Gesetz in Konflikt. Sieben von hundert Jugendlichen sehen Korruption und Kriminalität als notwendige Erscheinung auf dem Weg in die Marktwirtschaft an, dreimal mehr als bei den Erwachsenen. Die Jugendkriminalität ist 15mal höher als die in den übrigen Altersgruppen. Rußlands Jugend findet sich in dem schwindelerregenden Wandlungsprozeß besser zurecht als alle anderen, aber sie zahlt einen hohen Preis dafür.