■ Die kleine Breitseite
: Dienstwaffe Pflasterstein

Chaos in Hannover, Aufruhr im deutschen Blätterwald! Schuldzuweisungen an die Polizei! Zu hart! Mit dem Räumpanzer auf Menschenjagd – seid ihr denn wahnsinnig? Zu weich! Stehen rum, während die deutsche Kleinfamilie gemeinsam mit den Punks „Penny“ plündert!

Schuldzuweisung an den Innenminister: „Polizisten dem Straßenmob zur Steinigung freigeben!“ Bild fragt: „Sind wir machtlos?“ Thomas Löffelholz antwortet in der Welt am Montag: „Zwar haben wir bei all unserem Wohlstand noch lange nicht alle Probleme gelöst, doch sollten wir die Gefahren und das Versagen dieser Gesellschaft auch nicht übertreiben.“ Fünf Zeilen mal einsvierzig, macht sieben Mark auf die Hand! Hat ein Chefredakteur das nötig?

Lesen Sie selbst: „Punks fühlen sich als ,Indianer‘, tragen Irokesenfrisuren, glauben frei zu sein, und ahnen nicht, mit welch existenziellen Herausforderungen gerade solche archaischen Kulturen zu kämpfen hatten. Die Tatsache, daß die Lebenserwartung gerade 30 Jahre betrug, zeigt die Zwänge dieser Gesellschaften.“ Ach so! Liebe Punks, merkt euch eins: Les enfants perdu sterben früh! Also weg mit den Six-Packs! Kommt also lieber mit auf den Underberg, da lebt es sich länger!

Kein Herz für Punx hat Detlev Kuhlbrodt in der taz. Er entdeckt in ihnen das getreudeutsche Gegenstück zum Spießer: „Gesinnungspunker mit Bekenntnisklamotten.“ Volle Deckung! Ein journalistisches Wurfgeschoß! Dagegen waren die Pflastersteine der Polizei geradezu harmlos, zumal ja Einsatzleiter Wiedemann die Anweisung gegeben hatte, beim Steinewerfen auf keinen Fall zu treffen!

Hier muß man der Welt recht geben: „Gewalt macht Spaß.“ Für einen pfundigen Pflasterstein läßt der Beamte gerne mal den Knüppel fallen! Der Pflasterstein ist den herkömmlichen Distanzwaffen, wie CS-Gas-Granaten oder Gummischrot bei weitem überlegen: billiger in der Anschaffung, leichter zu handhaben und meist vollökologisch wiederverwendbar.

Die Einführung als Dienstwaffe ergibt sich eigentlich zwingend. Im Gegenzug müßten Punks ihre Kleiderordnung lockern, sich von ihren Statusfrisuren verabschieden und die allgemeine Helmpflicht einführen. Brustpanzer und Beinschienen könnten ein weiteres leisten, um die Auseinandersetzungen fairer zu gestalten.

Die Bereitschaft dazu wächst auch bei den radikalen Kräften. Das hat jedenfalls die Junge Welt unter der Überschrift „Einfach Scheiße“ herausgefunden. Sie zitiert einen vermummten Punk als Kronzeugen der Fairneß: „Leute, die auf ungeschützte Polizisten Steine werfen, hasse ich selbst.“ Mit dieser ritterlichen Grundeinstellung könnten die Chaostage für Hannover das werden was der 1. Mai für Berlin einmal war: Ein Randale-Klassiker olympischen Zuschnitts, mit internationaler Besetzung und echten Amateuren.

Hannover sollte sich die Chance, ein vielbeachtetes Sommerfestival zu kultivieren, nicht entgegen lassen und schon jetzt die nächsten Chaostage fest einplanen. Die Polizei hat in den letzten Tagen demonstriert, daß auch sie den Willen zum Chaos in sich trägt. Unsere Welt ist doch zu verplant. Auch der Polizist sucht nach Freiräumen.

Beamte mit Pensionsanspruch brauchen die Begegnung mit der Jugend – das hält sie in Bewegung. Chaostage, und das unterscheidet sie von Atombombentests, lassen sich nämlich nicht im Labor simulieren. Matthias Deutschmann

Der Autor (36) ist Kabarettist und lebt in Freiburg und Berlin