„Man sucht sich einige Mordangeklagte heraus“

■ Der Rechtsanwalt Steven Hawkins zum Todesstrafensystem der USA und den möglichen Gegenstrategien: Die europäischen Staaten sollen kräftig Druck machen

taz: Welche Bedeutung hat der Fall Mumia Abu-Jamals für die Debatte um die Todesstrafe?

Steven Hawkins: Mumias Fall macht den Rassismus in der Praxis der Todesstrafe deutlich. Er zeigt, wie Prozesse manipuliert werden können. Er zeigt, wie Hinweise auf die Unschuld eines Mandanten in der ersten Instanz durch die Staatsanwaltschaft unter den Teppich gekehrt werden können. Und er zeigt, wie schwierig es in unserem Rechtssystem für einen zum Tode Verurteilten ist, im Berufungs- und Revisionsprozeß neues Beweismaterial zu präsentieren. Die Realität in den Gerichtssälen hat nichts mit den Fernsehserien zu tun, in denen aufrechte Richter Fehlurteile aufheben und Unschuldige aus der Zelle befreien. In der Realität kann der Richter neue Zeugen einfach ablehnen oder behaupten, das neue Material der Verteidigung hätte nichts am Ausgang des ursprünglichen Prozesses geändert.

Wie kann ein Prozeß so offensichtlich zu einem makabren Wettkampf zwischen Richter und Staatsanwaltschaft auf der einen und der Verteidigung auf der anderen verkommen?

Das hat mit dem immanenten Irrsinn des Todesstrafensystems in den USA zu tun. Die Anwendung der Todesstrafe ist nicht nur Teil des Justizsystems, sondern des politischen Systems. In den einzelnen Bundesstaaten werden Richter und Staatsanwälte vom Volk gewählt. Darüber hinaus habe ich immer wieder bei Richtern – auch bei guten – einen psychologischen Schnappmechanismus beobachtet: Wenn sie und die Geschworenen einen emotional anstrengenden Mordprozeß hinter sich haben, wollen sie von einer Wiederaufnahme, von neuen Zeugen oder Beweisen nichts mehr hören.

... um etwaige Fehler nicht zugeben zu müssen.

Genau. Es ist höchste Zeit, daß eine Reform kommt, damit Berufungen und Revisionen nicht mehr vor dem Richter landen, der schon in erster Instanz zuständig war.

Die Weichenstellung findet aber schon im Büro des Bezirksstaatsanwalts statt, wo entschieden wird, ob in einem Mordprozeß die Todesstrafe gefordert wird oder nicht. Philadelphias Bezirksstaatsanwältin Lynne Abraham gilt als eine der radikalsten Befürworterinnen der Todesstrafe.

In den USA werden jährlich 25.000 Morde verübt. Es gibt aber keine 25.000 Todesurteile, weil die Öffentlichkeit das nie tolerieren würde. Insofern erfüllt die Todesstrafe eine symbolische Funktion. Auch Lynne Abraham sucht sich unter den Mordanklagten einige heraus, bei denen sie auf Todesstrafe plädieren läßt. In fast allen Fällen trifft es dann arme und dem Justizsystem hilflos gegenüberstehende Angeklagte. Auch das Mordopfer spielt eine Rolle. Wenn ein wohlhabender Weißer ermordet wurde, steigt die Chance, zum Tode verurteilt zu werden.

Nach den Meinungsumfragen befürworten heute 75 bis 80 Prozent der Amerikaner die Todesstrafe. Welche Strategien bleiben der Anti-Todesstrafenbewegung?

Nehmen wir das Beispiel des US-Bundesstaates Iowa, einer sehr konservativen Region. In Iowa sind elektronische „Town Hall Meetings“ [Bürgerversammlungen, bei denen die Teilnehmer über Video miteinander verbunden sind; d. Red.] enorm populär. Auf dieser Ebene haben Bürger die Todesstrafe diskutiert: Das Risiko, Unschuldige zu verurteilen; die enormen Kosten gegenüber der lebenslangen Freiheitsstrafe; die Belastung für die Gerichte durch das langwierige Revisionsverfahren. Ergebnis der Diskussion: Die stockkonservativen Farmer lehnten bei den letzten Wahlen ein Referendum zur Wiedereinführung der Todesstrafe ab.

Unsere zweite Option ist finanzieller Druck. Wir müssen dort anfangen, wo die Anti-Apartheid- Bewegung vor 30 Jahren begonnen hat – bei Boykottaktionen. Wenn europäische Nationen ihrem Protest wirkungsvoll Ausdruck verleihen wollen, müssen sie die ökonomische Schraube anziehen.

Wie hilfreich sind Brief-, Fax- und E-Mail-Kampagnen aus dem Ausland?

Sie helfen – auch wenn die Verantwortlichen mit einer Wagenburgmentalität reagieren. Ebenso wichtig sind internationale Prozeßbeobachter, wie sie in Mumias Fall präsent waren.

Wo stehen in naher Zukunft weitere Hinrichtungen bevor?

Am 31. August soll im US-Bundesstaat Arkansas Barry Lee Fairchild exekutiert werden. Das ist ein dramatischer Fall, der leider nicht soviel Aufmerksamkeit erhalten hat. Es gibt neues Beweismaterial, das massive Zweifel an der Schuld Fairchilds aufwirft, der im übrigen seit 1983 im Todestrakt sitzt. Sollte Fairchild exekutiert werden, wäre er nach Girvies Davis [am 17. Mai in Illinois hingerichtet] und Jesse DeWayne Jacobs [am 4. Januar in Texas hingerichtet] der dritte Mensch in diesem Jahr, dessen Todesurteil trotz ungeklärter Schuldfrage vollstreckt wird.

Wie stehen die Chancen eines Todeskandidaten in Arkansas?

Nicht gut. Das war schon zu Bill Clintons Zeiten so. Gouverneur Clinton hat in seiner Amtszeit mindestens zehn Hinrichtungsbefehle unterzeichnet. Daß er in Europa immer noch das Image eines Liberalen genießt, ist mir ein Rätsel. Interview: Andrea Böhm