■ Lichtspiele
: Zu frei für dich – 100 Jahre Genrekino

Das Kino, in dem ich aufgewachsen bin, hieß „Altenwerder Lichtspiele“. Altenwerder, das war das Dorf in der Nähe von Hamburg; daß Lichtspiele kein Name ist, sondern ein schönes Wort für Kino, habe ich als Kind nicht verstanden.

Solange ich zurückdenken kann, bin ich im Kino gewesen. Und da es meinen Eltern gehört, darf ich als erster hineinschlüpfen, sonntags, Viertel vor eins, zur Kindervorstellung.

Da gibt es dann Märchenfilme, ich erinnere mich an „Der kleine Muck“ (Schorchtfilm?) und „König Drosselbart“. Oder, das ist schon besser, Dick-&-Doof- Filme, was für uns auch eine Genrebezeichnung ist, aber auch Pat & Patachon oder Abbott & Costello.

Am schönsten ist es jedoch, wenn es Wildwestfilme gibt, so heißt das in den fünfziger Jahren (ich bin 1948 geboren). Fuzzy- Filme natürlich, vor allem aber richtige Western, und die erkennt man daran, daß James Stewart oder John Wayne mitspielen. Mitspielen? Sie sind der Film.

Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt begriffen habe, daß der Regisseur wichtig ist für einen Film, daß ich mir seinen Namen merken sollte. Für meine Freunde und mich, Ende der fünfziger Jahre, wenn wir des Filmdiskurses pflogen, reichte es aus, das Genre und den Star zu nennen, um ziemlich genau Bescheid zu wissen. John Wayne und Western; Errol Flynn und Fechtfilm; Jerry Lewis/Dean Martin und Lach-Sing-Film (wobei das Singen während der Kindervorstellung zu größerer Unruhe führte; auch Kußszenen waren äußerst unbeliebt und wurden mit dem höhnischen Zwischenruf „Halbzeit“ kommentiert).

In gewisser Weise ist natürlich jeder Film ein Genrefilm. In unserem Kino jedenfalls gab es nur Genrefilme. Krimis, amerikanische, also richtige, aber auch niedliche deutsche wie die Edgar- Wallace-Serie (unvergessen: Stanislav Ledinek). Heimatfilme, von „Der Förster vom Silberwald“ und „Grün ist die Heide“ bis „Hohe Tannen“, der so schlecht war, daß sich die Eltern genierten, obwohl er gar nicht schlecht lief, geschäftlich.

Schlagerfilme, in den Fünfzigern mit der schon damals „unverwüstlichen“ Marika Rökk (die lebt immer noch!), „Nachts im Grünen Kakadu“ dann mit Caterina Valente und dem unvermeidlichen Peter Alexander, schließlich Conny und Peter und die supersüße Vivi Bach mit ihrem sinnebetäubenden dänischen Akzent, von der Horrortruppe der Nebendarsteller zu schweigen: Gunther Philipp, Trude Herr, Oskar Sima, Rudolf und Peter Vogel ...

Als Genrefilm wurde auch der französische Film an sich (sans phrase) angesehen und für problematisch befunden, wenn er komisch sein wollte: Lustspiele, gab der Vater zu verstehen, gehen in Altenwerder, nie aber „bezaubernde Komödien“. Italienische Filme fielen in der Regel unter das Verdikt „zuviel Dialog“. Ausnahmen waren „Bitterer Reis“, „Und dennoch leben sie“ und natürlich „Das süße Leben“: wirklich gute Filme, und dennoch war das Kino, 300 Plätze, rammelvoll; ich hingegen mußte leider draußenbleiben: zu „frei“ für dich, lautete die opake, mir aber doch irgendwie verständliche Erklärung. Genre ist ein schwieriges Thema. Pam Cooks empfehlenswertes „The Cinema Book“ nennt und analysiert die Genres Western, Melodrama, Gangsterfilm, Film noir, Horrorfilm und Musical. Als klassische Genres gelten auch Slapstick, Fantasy, SF, Screwball, Thriller, Trickfilm. Und was ist mit Dokumentar- und Experimentalfilm? Zu schweigen von Subgenres wie Ritter-, Piraten- und Bibelfilm – die Schwierigkeit bei der Definition von Genre liegt auf der Hand: Sie ist entweder zu eng oder zu weit.

Was mir die Gelegenheit bietet, in dieser kleinen Serie übers Genrekino meine eigenen Definitionen und Dezisionen vornehmen zu können; keine reinen Willkürakte, sondern eine milde Form von Idiosynkrasien. Eine Folge wird sich mit dem Tanzfilm beschäftigen, eine, unvermeidlich, mit dem Western. Auch das geheimnisvolle Genre des Quasselfilms oder Home movies wird vorkommen, die finale Abrechnung mit dem heutigen Autorenfilm, und vielleicht kann man sogar „Funny Bones“, „Ed Wood“ und „Bullets Over Broadway“ zu einem Genre zusammengaunern.

Genre und Star, das sind die „basics“ des Kinos, damit begann für mich, damit beginnt überhaupt das Sprechen über Filme. Und außerdem hat der Begriff Genrefilm bei Kunstfilmliebhabern bis heute einen schlechten Klang, und das wissen wir zu schätzen. Denn in diesen Zeiten, da der Cineast und Filmolog allenthalben sein greulich Haupt erhebt mit Studien über „Die Aporie des Narrativen im Frühwerk der Marx-Brothers“ oder „Das Mise-en-scène bei Rudolf Thome“ droht, ist ein Gespräch über Genres nicht nur kein Verbrechen, sondern nachgerade praktisch täglich Brot. Kurt Scheel

Foto: David Brandt

Der Autor ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Merkur“