Es gibt keinen Knopf zum Abschalten

Manchmal wissen auch professionelle HelferInnen nicht weiter: Ohne Wohnung, Arbeit und sicheren Aufenthalt, sagt Behrouz Asadi aus Mainz, stoße die Hilfe für bosnische Flüchtlinge an ihre Grenzen  ■ Von Heide Platen

Die Stimme von Behrouz Asadi vibriert ganz hinten in der Kehle, klingt rauher und einen Ton höher als sonst: „Ihr müßt etwas machen, es muß etwas passieren!“ Der Flüchtlingskoordinator des Malteserhilfsdienstes in Mainz ist eigentlich ein Professioneller, den Krieg und Vertreibung, Exil, das Elend der Welt, das er seit Jahren verwaltet, nicht so leicht umwerfen können.

Aber in dieser Nacht hat er einen zweiseitigen Appell geschrieben, in dem er mit der Weltgemeinschaft rechtet: „Ich schäme mich für die Ratlosigkeit der Politiker.“ Der Helfer ist ratlos geworden und hat selbst einen Hilferuf in die Welt geschickt: „Ich weiß nicht mehr, wie ich die Leiden dieser Menschen beschreiben soll.“

Behrouz Asadi betreut in der Dragoner-Kaserne und in vier Außenstellen in Mainz vor allem bosnische und kroatische Flüchtlinge. Er ist vierzig Jahre alt und 1975 aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen. Dort war er politisch aktiv und verfolgt. Hier hat er gleich zweimal studiert. Er ist Diplomgeologe, engagierte sich schon an der Universität in der Ausländerarbeit, dann bei Pro Asyl und ließ sich in den Mainzer Ausländerbeirat wählen. Bekannt wurde er, weil er auf der schwarzen Liste seines Heimatlandes stand und Morddrohungen bekam. Während der iranischen Revolution 1979 kehrte er voller Hoffnung in seine Heimat zurück, mußte aber wieder fliehen.

Seither hat er sein Land nicht wiedergesehen, kann seine dort noch lebende Mutter nicht besuchen. Zurückgekehrt, sagt er, „litt ich unter politischer Untätigkeit“. Er entschied sich, Sozialarbeit zu studieren. Seit fünf Jahren arbeitet er für den Malteserhilfsdienst, er reiste nach Ruanda, in den Südsudan, nach Zaire, half in Rumänien eine Armenküche und eine Apotheke für Roma einzurichten.

Asadi redet nicht gern über sich selbst. Er redet lieber über seine Arbeit, die ehrenamtlichen HelferInnen, unterhält sich zwischendurch mit einem kleinen Jungen, der die Pässe seiner Familie für die Duldung verlängert haben möchte – und regt sich auf: Der unsichere Status der Duldung müsse unbedingt in eine Aufenthaltsbefugnis umgewandelt werden.

Seinen Appell hat er geschrieben, sagt Asadi – und das fällt ihm schwer –, nachdem er das Weinen der bosnischen Frauen nicht mehr ausgehalten hat. Eine habe sich umbringen wollen. Sie ist gerade aufgenommen worden und wohnt provisorisch im Keller. Da wird sie später an der Treppe stehen, versuchen, die tröstenden, aufmunternden Worte von Behrouz Asadi zu verstehen, dem es nicht auf das ankommt, was er sagt, sondern nur darauf, daß er mit ihr redet. Daß er sie erreicht in ihrer tiefen Depression. Ihr Mann ist im Krieg in Bosnien gestorben. Sie steht schmal und verloren an der Treppe, nickt, der Mund versucht zu lächeln, sie will dankbar sein, die Augen schwimmen von zurückgehaltenen Tränen.

Und da waren die Fernsehbilder von vertriebenen Menschen aus Srebrenica und Zepa, die Angriffe auf Bihać und Goražde, die Bilder von der Gewalt, die die Flüchtlinge am eigenen Leib erfahren haben und jeden Tag, am Bildschirm klebend, neu durchleiden. Für sie gibt es keinen Knopf zum Abschalten. Wegsehen können sie nicht. Daran ändert auch die kroatische Offensive nichts. Das bosnische und kroatische Fernsehen, sagt Jutta Lindert, „läuft bei manchen den ganzen Tag: Aber immerhin schicken sie die Kinder aus dem Zimmer.“ Auch die haben sich in den letzten Wochen verändert. Asadi: „Sie spüren die Verzweiflung ihrer Eltern.“

Und dann an diesem Abend, bevor er seinen Appell schrieb, das Bild einer Frau im Fernsehen, die sich in Srebrenica erhängt hatte: „Da habe ich Angst gekriegt. Ich habe das erste Mal geweint.“ Sein eher moralischer Appell, zwei engbeschriebene Seiten über die Lage in den Heimen und die an alle und niemanden gerichtete Forderung, doch endlich etwas zu unternehmen, den Asadi beinahe kopflos an verschiedene Medien schickte, sei für ihn, sagt Lindert über ihren Kollegen, ein notwendiges Ventil gewesen.

Nun kommen zumindest JournalistInnen, um über den Alltag im Heim zu berichten. Aber wichtiger für Asadi: daß sich die Menschen im Lager dazu durchringen, vor Kameras und Mikrofonen zu reden. Das zeigt auch erschreckend sinnlich den täglichen Schmerz, dem sich Lindert, Asadi und ihre KollegInnen – selber hilflos – nicht entziehen können: Sprachlosigkeit, mühsames Ringen, das Unsagbare zu erzählen.

Männer, die geschlagen und gedemütigt worden sind, die mitten im Gespräch, in sich selbst versunken, nach unten starren. Frauen, die versuchen, diesen wie den angereihten nächsten Tag zu überstehen. Sie haben gekocht, Paprikaschoten und bosnisches Brot. Den Männern bleibt der Bissen im Hals stecken, nachdem sie stockend versucht haben, von sich, vom Krieg, von ihrer Heimat, die sie nicht verloren wissen wollen, zu erzählen. Die Frauen decken auf, reden gut zu. Über der Mittagstafel verdichtet sich greifbar, fühlbar die Depression. „Was fragen Sie noch?“ hatte ein junger Mann, der in einem Internierungslager war, mit versteinertem Gesicht gesagt: „Ich kann nicht darüber reden. Sie sehen das doch jeden Abend selbst.“

Der kroatische Steinmetz Stepan hat mit den Bosniern gegen die Serben gekämpft, ebenso wie Viktor. Die Männer mittleren Alters wollen zurück, mit Waffen ihre verlorene Lebensgeschichte zurückerobern. Manche waren geflohen, als der Kampf für sie sinnlos schien, als ihr Haus, ihre Straße, ihre Stadt erobert waren. Erst im Exil keimt Nationalismus. Nichts habe die Welt, nichts Deutschland getan, um ihnen zu helfen. Daß sie sich dennoch immer wieder bei der Bundesrepublik bedanken dafür, daß sie geduldet sind, klingt wie eine Formel, an die sie sich klammern. Nur einige der jungen Männer, darunter auch Stepans Sohn, wollen statt der Vergangenheit eine Zukunft und nach Bosnien zurück „nur vielleicht, wenn wieder Frieden ist“.

Asadi mischt sich nicht ein, zwingt die Presseleute, die das Essen mit den BosnierInnen teilen, an deren Leid Anteil zu nehmen. Sie können auch dem alten Mann nicht entgehen. Der 65jährige Bauarbeiter lacht laut über die Frage, was er von Deutschland erwarte: „Nischta! Nischta!“ Er ist auf der Flucht vor den Serben schwer verwundet worden, zieht die Hose bauchabwärts und zeigt, die Zeit seiner Scham ist vorüber, die riesige Narbe.

Behrouz Asadi beobachtet genau und legt manchmal seine strengen Verwaltersätze nach: „Die jetzigen Wohnverhältnisse beeinträchtigen zusätzlich den ohnehin destabilen psychischen Zustand der Menschen.“ Und ist dann wieder voller Zorn: „Die gehen hier vor die Hunde!“ Durch diese „tagtägliche verdammte Bildübertragung“ haben sich die Menschen in der Dragoner-Kaserne verändert: „Ich sehe das Grauen tief drin sitzen in den Augen und die roten Ringe drum herum“, sagt Asadi. Er bittet nicht mehr, er fordert: „Aufenthaltsbefugnis statt Duldung!“

Fast alle Vertriebenen brauchen psychosoziale Einzelbetreuung, die ehrenamtlich nicht geleistet werden kann. Sie brauchen vor allem Sicherheit, eine Wohnung und Arbeit. Nur so können die ständig in der Vergangenheit lebenden, grübelnden Flüchtlinge vielleicht anfangen, an eine Zukunft zu denken, die nicht in Jejce, siebzig Kilometer südlich von Banja Luka, liegt: „Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten. Jetzt haben sie nur Hoffnungslosigkeit, böse Träume und Illusionen.“

Daß Behouz Asadi an diesem Tag, an dem er arbeitet wie an allen anderen, auf seine Weise Geburtstag feiert, stellt sich nebenbei heraus. Da steht plötzlich eine Flasche Sekt auf dem Schreibtisch. Auf dem freien Platz in der Alten Ziegelei spielen die Kinder aus den Lagern. Sie formieren sich zu einem lärmenden Haufen und singen „Happy Birthday“. Da kriegt der Helfer einen roten Kopf und versucht verlegen, schnell noch über dies und das zu informieren. Und schnell noch eine Familie hinter dem Spielgelände zu besuchen, die auch reden will, der es auch wichtig ist, ihr Anliegen einmal öffentlich auszusprechen.

Und dann kauft er der ganzen Kinderschar Eis und hat einen Kinobesuch organisiert, denn „die Kinder sind froh, wenn sie mal rauskommen: Das macht mir auch Freude. Das ist mein Geburtstag.“ Er klingt trotzig, als warte er schon auf die Frage nach dem Privatleben. Und was fängt die Familie, Frau und Tochter, mit dem hochtourig drehenden Mann an, der sagt, daß er die Eindrücke aus dem Lager „abends mit nach Hause nehmen muß“? Seine Frau, sagt er, verstehe ihn: „Sie hat ihren 21jährigen Bruder im Krieg im Iran verloren.“

Manchmal bremst ihn auch Jutta Lindert, die von sich sagt, sie sei „die einzige Pazifistin hier“: „Mit Waffen gibt es nie Frieden!“ Darüber streiten die beiden heftig. Der Exiliraner zitiert ein Sprichwort aus seiner Heimat: „Im Krieg verteilt man keine Datteln.“ Aber: „Ich weiß, daß Krieg schrecklich ist.“ Jutta Lindert teilt die Angst ihres Kollegen um die Menschen in der Dragoner-Kaserne, versteht deren Verbitterung, spürt, daß sie emotional bis zum Zerreißen angespannt sind. Krach um alltägliche Kleinigkeiten kann jederzeit zum großen Streit eskalieren. „Das wichtigste ist“, sagt Lindert, „daß diese Trauer nicht in Haß umschlägt.“