Der Spur der Kräne folgen

Ein Dorf in der Stadt: Am Potsdamer Platz wohnen 350 Bauarbeiter in Containern  ■ Von Barbara Bollwahn

Karl Maler* und Rolf Schlotz* ziehen lange Gesichter. Es ist zwanzig Uhr, und wie fast jeden abend stehen sie an dem von ihnen „Ballerbude“ getauften Biertresen neben dem ehemaligen Hotel Esplanade am Potsdamer Platz. Es gibt schon wieder keine feste Nahrung mehr. Frisch geduscht stehen die beiden Ruhrpöttler an der Bude. Kurzerhand ersetzen sie die feste Nahrung mit Bier. „So schnell kann man gar nicht gucken, wie das erste Bier weg ist“, sagt der 59jährige Bauarbeiter Schlotz und vergißt seinen Appetit auf Wiener Würstchen mit Weißbrot. „Ohne Frau ist das Bier eben mein Müdemacher“, ergänzt der Radladerfahrer Maler und ordert das nächste Glas. Dann wird der 31jährige nachdenklich: „Das ist aber auch nicht das Wahre.“

Auf die Schreie von der sechzig Meter hohen Bungee-Schaukel über ihren Köpfen reagieren die beiden Bauarbeiter nicht. Ihre Ohren sind abgehärtet. Seit fünf Wochen arbeiten Maler und Schlotz für eine Tiefbaufirma auf der 60.000 Quadratmeter großen Baustelle auf dem Potsdamer Platz. Wenn sie aus ihrem Container aus dem Fenster schauen, sehen sie den riesigen Platz, auf dem sie jeden Tag mindestens zwölf Stunden schuften. „Es gibt gute und schlechte Baustellen“, erzählt Schlotz beim dritten Bier. Aber der Potsdamer Platz sei ein „Problemkind“. Das Schlimmste sei der Wasserauftrieb. Noch nie hätten sie so lange Anker wie hier in die Erde einbringen müssen. Statt den gängigen Ankern von fünfzehn bis achtzehn Metern Länge müßten sie hier Anker mit einer Länge bis zu 57 Meter einbringen. Anschließend werden diese mit hydraulischen Pressen gespannt. Ein Ende der Arbeit ist noch nicht in Sicht.

Maler und Schlotz rechnen damit, zwei bis drei Jahre auf dem Potsdamer Platz zu verbringen. „Probleme sind da, um beseitigt zu werden“, spricht Schlotz sich selbst und Maler Mut zu. „Genau“, erwidert Maler. „Und dafür sind wir da, prost!“

Schlotz und Maler hassen das Montageleben. Ihnen fehlt die Familie. Während sich Schlotz' Frau an das Montageleben ihres Mannes gewöhnt habe, weiß Maler nicht, wie lange seine Frau das noch mitmacht. „Wenn jemand sagt, Montage ist schön“, ereifert er sich, „dem könnte ich in die Fresse hauen. Das ist kein Leben“, sagt Maler. Eigentlich habe er nur ein Jahr auf Montage gehen wollen. Doch die Parole seines Vaters, „Entweder du schaffst es, oder du gehst unter“, habe ihm arg zugesetzt. Also hat er die Zähne zusammengebissen. Seit neun Jahren zieht er jetzt von Baustelle zu Baustelle.

Seit fünf Wochen leben Maler und Schlotz in einem fünfzehn Quadratmeter großen Wohncontainer. Ihre Firma hat 62 Container gemietet, nur wenige Meter von der Baustelle entfernt. Insgesamt arbeiten und leben jetzt 350 Männer am Potsdamer Platz. Eine Schicht aus Mineraldämmwolle soll für die äußere Isolierung der Stahlkisten sorgen. Doch gegen den Lärm und die Hitze kann sie nicht viel ausrichten. Wer auf der Sonnenseite wohnt, läßt die Rollos immer unten. Wer nachts ein paar Stunden schlafen will, muß die Fenster schließen. Wer sich nach einer Nachtschicht aufs Ohr hauen will, hat kaum eine Chance, ein Auge zuzumachen. Denn nur wenige Meter entfernt braust der Verkehr vorbei.

Zwei Betten, zwei Spinde, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kühlschrank und eine Kochplatte – das Baustellenquartier ist spartanisch und DIN-genormt. In den Spinden stehen sogar die gleichen Büchseneintöpfe als „eiserne Ration“ der Arbeiter. Zwischen den orangefarbenen Containern, die in zwei Etagen aufgebaut sind, stehen zehn Sanitärcontainer mit je zwei Duschen und Toiletten. Fernseh- und Radiogeräte haben sich die Arbeiter von zu Hause mitgebracht. Mit Satellitenschüsseln holen sie sich bunte Programme in den Feierabend.

Wenn die Arbeiter nicht zu müde sind, sitzen sie um den Grill. Weil ihre Autos die wenigen Quadratmeter vor den Containern einnehmen, haben sie ihn auf dem Podest im ersten Stock aufgebaut. Die Aussicht auf Brandenburger Tor und Reichstag interessiert sie recht wenig. Kaum einer hat sich die wenige Meter entfernte Stern- Rotunde mit dem Zukunftsbild des Potsdamer Platzes angesehen – trotz angebotenem freiem Eintritt.

Ihre Interessen sind andere. Maler beispielsweise „angelt sich lieber eine Frau“. Er setzt sein nicht uncharmantes Abschlepplächeln auf und macht einen verwegenen Vorstoß: „Um eine richtige Baustellenreportage zu schreiben, muß man mindestens eine Nacht im Containerdorf verbringen.“ Weil er den Container mit Schlotz teilt, zieht er sich bei Bedarf in sein großes, gut gefedertes Auto zurück. Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Frauen sind im Containerdorf tabu. Aber was der Chef nicht weiß, macht ihn nicht heiß, so lautet Malers Devise. Der Polier lege seinen Jungs nur ans Herz, die Mädchen nicht im Negligé über die Flure laufen zu lassen. Das bringe nur Unruhe unter den Arbeitern.

Trotz seiner „Weibergeschichten“ behauptet Maler, ständig an seine Familie zu denken. Als er als Junggeselle den Bauberuf wählte, habe er nicht geahnt, daß ihn eines Tages der Milchzahn eines Kindes mehr interessieren könnte als die Zähne eines Schaufelbaggers. Jetzt habe er Angst, daß sein dreijähriger Sohn und seine sechs Monate alte Tochter bei einem Besuch fragen könnten, „Mama, wer ist der fremde Mann an der Tür?“ Doch die Alternativen sind nicht rosig: Würde er zu Hause bei der Firma bleiben, müßte er bei Schlechtwetter stempeln gehen. So geht er weiter auf Montage, „um ein paar Mark mehr zu verdienen“. Doch von den eintausend Mark zusätzlicher Auslöse bleibe letztendlich nicht viel übrig. Wieviel sie verdienen, wollen Maler und Schlotz auch nach dem vierten Bier nicht verraten. „Geld hat man, darüber spricht man nicht“, verkündet Maler den alten Spruch.

Um so mehr reden sie davon, was ihnen eigentlich zum Hals raushängt: die Arbeit. „Ich habe mich in neun Jahren vom Maurer zum Radladerfahrer hochgearbeitet“, erzählt Maler voller Stolz. Das einzige, was ihn ärgert, ist die Einsamkeit auf dem Fahrersitz. „Weil ich ein Schwätzer bin“, sagt er und lacht. „Und auf dem Radlader kann ich mich mit keinem unterhalten.“ Schlotz kann das nicht beeindrucken. Siebenundzwanzig Jahre Montage liegen hinter dem ehemaligen Fernfahrer. Als Hilfsarbeiter hat er angefangen. „Jetzt bin ich ZBV“, sagt er geheimnisvoll: „Zur besonderen Verwendung.“ Im Büro würde man Mädchen für alles sagen. Zur Zeit arbeitet er als Brunnenbauwerkpolier.

Früher, erzählt Schlotz, der schon öfters in Berlin auf Montage war, habe er in Hotels oder Wohnungen gewohnt. Als er von 1982 bis 1985 in der Baugrube für den Kammermusiksaal arbeitete, hatte er ein Einzelzimmer in einer Firmenwohnung in Reinickendorf. „Das war eine schöne Zeit“, erinnert er sich. Doch die Zeiten sind längst vorbei.

„Wir kommen hier einfach nicht unter“, sagt der Polier Matthias Lorenz*. Der Bohrmeister klagt über fehlende Wohnungen im Zentrum und zu teure Hotelzimmer. Eigentlich ist der 41jährige „ein Feind des Containerlebens“. Doch das Containerdorf neben der Baustelle auf dem Potsdamer Platz sei ganz angenehm. „Früher war es echt rauh“, sagt Lorenz, der seit achtzehn Jahren auf Montage ist. Da hätten die Arbeiter „wie Schweine gelebt“. Er ist froh, daß es hier keine Großküche gibt. „Ich habe Küchen erlebt, da hätte man nicht mal ein Spiegelei gebraten“, erinnert er sich voller Ekel. „Wir rufen uns gegenseitig zur Ordnung“, erklärt er die ziemlich saubere Männerwirtschaft in dem Containerdorf, wo Stiefel, Arbeitsschuhe und Schaufeln zwar verdreckt, aber in Reih und Glied vor den Türen stehen.

Polier Lorenz ist unter den Containerbewohnern privilegiert. Er wohnt alleine. Kein Mitbewohner, der Fisch brät, ohne das Fenster zu öffnen. Kein Schweißgeruch fremder Arbeitsschuhe, der ihm die Luft nimmt. Lorenz stemmt zum Ausgleich zur Arbeit regelmäßig vierzig Kilo schwere Hanteln. Über der Hantelbank, gegenüber von den Pin-up-Girls, hängt ein großer Bauplan mit Zeichnungen von Kastenspund-, Bohrpfahl- und Schlitzwänden. „Das Schlitzwandgeschäft ist sehr schwer“, erklärt Lorenz. „Das ist ein riesiger Aufwand.“ Erst müßten die Lamellen, die als Stützwände einer Baugrube dienen, aufgerissen werden, fängt er sofort zu fachsimpeln an: „Dann müssen sie entsandet werden. Das kann bis zu fünf Stunden dauern. Dann müssen die offenen Lamellen betoniert werden. Um in die bis über dreißig Meter tiefen Lamellen die Stützflüssigkeit einzubringen, braucht man nochmal sechs Stunden.“ Nachtschichten und 270 bis 280 Arbeitsstunden im Monat sind zwar nicht erlaubt, seien aber keine Seltenheit.

„Ich mache drei Kreuze, wenn ich hier weg bin“, versichert Lorenz. „Irgendwann geht der Trubel und die Heimfahrten in den Kopf.“ Die übergroße Nähe zwischen Arbeit und Wohnen haßt er. Als Vorgesetzter sei er rund um die Uhr im Dienst; ständig klopfe jemand an seine Tür. „Wenn ich nur über den Flur laufe, um Kaffeewasser zu holen“, so Lorenz, „kommt gleich einer und beschwert sich.“ „Wenn das Haus brennt, brennt es“, verteidigt er seinen wohlverdienten Feierabend. Liege er dann endlich im Bett, könne er kaum ein Auge schließen, klagt Lorenz. Es sind nicht die Geräusche aus den Duschen und Toiletten nebenan, die ihm am Einschlafen hindern. Es ist der Straßenverkehr. „Bei mir zu Haus ist die nächste Straße drei Kilometer entfernt“, erzählt er. In Berlin reiche es nur zu einen Halbschlaf. Zu Hause hole er dann das Defizit auf und schlafe „wie ein Sack“.

Wenn Lorenz ein Wochenende in Berlin bleibt, keine Sonderschicht anliegt und er gut drauf ist, zieht er durch die Tanzlokale und Bars der Stadt. Oder er liest Bücher über die Neue Reichskanzlei. Um nicht zu verblöden, wie er sagt.

Während Maler jeden Freitag vollkommen geschafft nach Gladbeck fährt und Sonntag nachmittag den Rückweg antritt, fährt Schlotz nur alle zwei Wochen heim. Oft arbeitet er auch samstags. Dann bleibt nur der Sonntag, um sich in der Stadt umzusehen. „Vergangenen Sonntag bin ich morgens um sechs Uhr losgelatscht“, erzählt Schlotz. Deutsche Oper, Flohmarkt in der Straße des 17. Juni, auch Unter den Linden ist er „rumgelatscht“. Mittags hat er sich dann auf der Liegewiese im Tiergarten „Nackedeis“ angesehen. Maler kriegt lange Ohren, als Schlotz von zwei jungen Türkinnen oben ohne erzählt. „Das wäre was für mich gewesen“, sagt Maler. „Da mußt du mal ein Wochenende hierbleiben“, antwortet ihm Schlotz.

*Namen von der Redaktion geändert