600 Medikamente sind genug

■ Bremer Mediziner im Streit um die kurze Berliner „Positiv-Liste“ / Krankenkassen stimmen zu, aber Ärztekammer verweigert Mitarbeit

Es muß endlich „Schluß sein mit der verkappten Werbung für die Pharmaindustrie“, kritisiert Peter Schönhöfer, Leiter des Bremer Institutes für klinische Pharmakologie, die bisherige „Klüngelei“ zwischen den Standesvertretungen der Ärzte und den Arzneimittelherstellern.

Auf sechzig- bis achtzigtausend Präparate schätzt er den Bestand bundesdeutscher Medikamente, davon sei ein großer Teil „ohne jeden therapeutischen Nutzen“. Diese Einschätzung entspricht der der Berliner Ärztekammer, die vor wenigen Tagen in einem bundesweit einmaligen Vorstoß eine „Positiv-Liste“ herausgab, in der lediglich 600 Medikamente als notwendig beschrieben und samt Preisangabe namentlich benannt wurden. Alle anderen Präparate, heißt es, seien vollkommen überflüssig, lediglich dazu geeignet, den Pharmafirmen eine gesunde Bilanz zu sichern.

Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, durchbrach damit ein Tabu. Denn stillschweigend, lästert Huber, wurde die für Pharmafirmen lukrative Kaufhaltung der MedizinerInnen zur „kulturellen Gewohnheit“. Deren Standesorganisationen halten ihre Hand darüber, denn auch sie profitieren davon: die Pharmafirmen sponsern Weiterbildungen und Kongreßreisen. Dabei aber bleibt das Wohl der PatientInnen unberücksichtigt. Sie sind einer wachsenden Flut von Medikamenten ausgesetzt, obwohl insgesamt nur etwa 400 Wirkstoffe existieren. Gleichzeitig gibt es allein 30.000 Präparate auf dem Pharmamarkt, die nicht einmal auf ihre Wirksamkeit hin getestet worden sind.

Die bislang gültige, von Bundesgesundheitsmister Seehofer herausgegebene Positiv-Liste, die etwa 30.000 Medikamente umfaßt, bezeichnet Huber im Gespräch mit der taz als „Schmarren“ und „zentralistische Volksbeglückerei“. Es sei ein „flächendeckender Etikettenschwindel“, wenn sich etwa der neueste Betablocker von seinen 100 Vorgängern auf dem Markt allein dadurch unterscheide, daß er als herzförmige Pille auftritt. Oder wenn die Pharmaindustrie auf den Wirkstoff im gängigen Aspirin schlicht Vitamine und Koffein draufpacke, um diese Mischung als neues Präparat auf den Markt zu bringen. Diese Praxis habe bereits teilweise zu „verbecherischen Massenkombinationen“ geführt.

Die Berliner Ärztekammer versteht ihre Liste als eine Art Verbraucherberatung. Dabei weiß sie die Krankenkassen hinter sich, erhält allerdings Gegenwind aus Bonn. Die Stellungnahme der Gesundheits-Staatssekretärin zur Positiv-Liste bewertet Huber als Beleg dafür, daß dem Ministerium „die Zukunft der Pharamindustrie wichtiger ist als die Gesundheit der Menschen.“

Auf Kritik stößt die Berliner Ärztekammer auch in den eigenen Reihen. So verweigerte die Bremer Ärztekammer bislang, sich dem Versuch anzuschließen oder eine eigene Positiv-Liste auszuarbeiten. Eine solche Liste, erklärt der stellvertretende Geschäftsführer Blömer, gefährde die Therapiefreiheit der Ärzte. Das aber, kontert Huber, sei Blödsinn. „Die Therapiefreiheit hat ihre Grenze da, wo die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung gefährdet ist“, schimpft er. „1,4 Millionen Tablettensüchtige sprechen doch für sich.“ Schon jetzt sei jede fünfte Krankenhauseinweisung ein Medikamentenopfer.

Jede dritte Verordnung in niedergelassenen Arztpraxen werde für unnützes Zeug ausgeschrieben, bestätigt Peter Schönhöfer. Jede vierte Mark sei quasi aus dem Fenster geworfen. „Das Klüngelverhalten zwischen Chefarzt und den Firmen ist entscheidender als die therapeutische Qualität.“ Wie Huber verweist er auf andere Länder, in denen drastisch reduzierte Postiv-Listen längst an der Tagesordnung sind. Allein Deutschland leiste sich auf Kosten der PatientInnen einen derartig wuchernden Pharma-Markt.

„Unter der Flagge der Therapiefreiheit wird den Ärzten therapeutischer Unsinn aufgeschwätzt“, kontert er die Einwände der Bremer Ärztekammer. „Wir Ärzte sind die Therapeuten, nicht die pharmazeutische Industrie“, bringt es Kollege Ellis Huber auf den Punkt. „Es ist an der Zeit, daß sich die Ärzteschaft die Definitionsmacht über die pharmakologische Therapien zurückerobert.“ dah