Grandezza am Canal Grande

Klatsch und Tratsch rund um Venedig und was Sie eigentlich gar nicht unbedingt wissen wollten. Ein Insider-Lexikon auf Weltniveau mit dem Drang zum wirklich Schönen  ■ Von Carl-Wilhelm Macke

Wollten wir nicht immer schon mal wissen, warum Hans Magnus Enzensberger seine Wohnung in Venedig aufgegeben hat? Und wo Norman Mailer seine Ravioli bestellt, wenn er mal wieder die Serenissima besucht, ist ja auch eine uns seit langem bedrängende Frage. Jetzt endlich wissen wir es. Seitdem wir das soeben im Münchener Beck-Verlag erschienene „Insider- Lexikon Venedig“ von Gaston Salvatore gelesen haben, ist unser kulturelles Kapital um einige kleine Sümmchen reicher.

Gaston Salvatore, moment mal, war das nicht der chilenische Genosse neben Dutschke im Gewühl der 68er-Barrikadenkämpfe am Tegeler Weg? Seit Jahren nun schon in Venedig lebend, will Salvatore uns mit diesem Bändchen in die inneren Geheimnisse der venezianischen Inselwelt entführen. Daß ihm dabei jeder Anspruch fern liegt, uns jeden Tintoretto im Dogenpalast bis in den feinsten Pinselstrich vorstellen zu wollen, spricht eher für sein Büchlein. Venedig-Führer gibt es wahrlich in Hülle und Fülle. Der Blick von Salvatore auf Venedig, wo er nun schon einige Jahre lebt, ist dagegen von durchaus sympathischer Subjektivität. Im Rhythmus des Wassergeplätschers in der Lagune plaudert der Autor über dies und das aus dem heutigen Venedig. Zum Beispiel erhalten wir die ja für Venedig-Reisende überaus bedeutsame Information, daß es ein Hotel gibt, wo der Portier „einen Fotokatalog mit Huren für jede Neigung besitzt“.

Gelegentlich lenkt Salvatore den Blick auf noch unbekannte Ecken in dieser weltweit so bekannten Stadt, zum Beispiel auf eine Bank, wo eine venezianische Freundin als junge „Ragazza“ zum ersten Mal geküßt wurde. Daß der Autor noch zu Lebzeiten von Peggy Guggenheim an einer ihrer legendären Parties teilgenommen hat, erweitert zweifellos unser Wissen über das zeitgenössische Venedig. Wen trieb nicht schon seit Jahren die Frage um, wo in Venedig Susan Sontag, Norman Mailer (s.o.), Claudio Abbado, Giuseppe Sinopoli und Harrison Ford ihre Antipasti einnehmen: bei „Vini da Arturo“.

Enzensberger, um die Ausgangsfrage zu beantworten, hat übrigens sein Domizil in Venedig aufgegeben, weil die über ihm wohnende Dame häufiger vergessen hat, bei laufendem Wasser den Stöpsel aus der Badewanne zu entfernen. Und der kranke Harold Brodkey erwartet hier „unter geheimgehaltener Adresse“, wie Salvatore flüsternd und en passant verrät, den „Tod in Venedig“. Klatsch & Tratsch am Canal Grande, die „Großen“ unserer Zeit sind auch nur Menschen.

Über diese „wunderbar morbide Stadt“ gäbe es für Salvatore eigentlich nur Gutes zu berichten, wenn da nicht diese Massen von „schwitzenden Touristen“ wären. Sie, die scheißenden Tauben und die alles zerfressenden Ratten sind das Menetekel einer sterbenden Stadt. Die Tauben kann man einfangen, mit den Ratten lebt man in Venedig schon seit Jahrhunderten, aber was macht man gegen die Touristenplage?

Um sich ihrer – und der nach Salvatore „miserablen venezianischen Alltagsgastronomie“ – zu erwehren, empfiehlt er zum Beispiel, nur Restaurants und Hotels aufzusuchen, in denen horrende Preise natürlich „auf Weltniveau“ verlangt werden: „Harry's Bar“, das „Monaco“ und das „Gritti Palace“. Langsam taucht hier aber auch die Frage auf, für wen Gaston Salvatore eigentlich dieses „Insider-Lexikon Venedig“ verfaßt hat.

Eine Antwort bietet vielleicht das Zitat eines Barons, das Salvatore zustimmend aufgreift: „Nur jemand, der eine Beziehung zum Aristokratentum hat, kann Venedigs Schönheit verstehen.“

Aha, wenn das so ist, hätte man sich als mickriger Bürger ja die ganze Lektüre dieses Bandes sparen können. Und auf die nächste Reise nach Venedig kann sich dann auch nur noch wirklich freuen, wer dem Adel eng verbunden ist. Aber wer ist das schon in diesen dekadenten republikanischen Zeiten ...?

Gaston Salvatore: „Venedig – Das Insider-Lexikon“. Beck'sche Reihe, München, 1995, 108 Seiten, 16,80 DM.