Obsessionen in der Satellitenstadt

Abgründe in der Seele eines Sozialdemokraten. Ein neuer Roman von Ingvar Ambjörnsen  ■ Von Martin Niggeschmidt

Würde es die Grenze des guten Geschmacks überschreiten, mit dem Foto Helmut Kohls vor Augen zu onanieren? Und wie wäre das im Fall der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland? Es gibt ja, und das ist ein Thema von Ingvar Ambjörnsens neuem Roman „Ausblick auf das Paradies“, die merkwürdigsten sexuellen Obsessionen.

Nein, sagt der norwegische Schriftsteller, verrückt sei sein auf Gro Harlem Brundtland fixierter Protagonist nicht, allerdings an der Grenze, ein bißchen merkwürdig eben. Die Romanfigur heißt Elling, ein Name, der, so Ambjörnsen, für norwegische Ohren ziemlich blöde klinge.

Elling wohnt in einer Satellitenstadt bei Oslo und beginnt, vom Zimmer seiner soeben verstorbenen Mutter aus, Bewohner der gegenüberliegenden Wohnblocks zu observieren. Mit einem Teleskop auf einem Podest sitzend, macht er sich eigentümliche Vorstellungen vom Leben und Treiben seiner Nachbarn. Immer mehr versinkt er in einen Strudel von autistischen Phantasien und gibt sich der Sehnsucht nach einer machtvollen, Sicherheit ausstrahlenden Übermutter hin.

„,Ausblick auf das Pardies‘ war ein großes Experiment für mich“, sagt Ambjörnsen, der soeben in Norwegen zum fünftbeliebtesten Autor (gleichauf mit Henrik Ibsen) gekürt wurde. „Das Buch ist sehr anders als meine früheren Romane.“ Bekannt geworden ist der 39jährige Autor mit „Weiße Nigger“, einem Bericht über die Subkultur der siebziger Jahre mit ihren Alkohol- und Drogenexzessen.

Seither hat sich Ambjörnsen der verschiedensten Gattungen bedient, hat Kurzgeschichten, Romane, Jugendbücher und Krimis geschrieben. Der Literatur zumindest kamen seine Kenntnisse der Rotlicht- und Drogenszene zugute; kaum jemand sonst hat es verstanden, die klassische Genrewelt des Großstadt- und Milieukrimis mit Figuren von solch treffsicherer Authentizität auszufüllen. Die kümmerliche Tradition deutscher Detektivfiguren verdankt dem Norweger eine lebenssatte Ausnahmeerscheinung: Victor von Falk, den dünnhäutig-lakonischen Protagonisten aus dem Hamburg- Krimi „Die mechanische Frau“.

Und nun? Kein Spiel mehr mit den Genres, weg von der Straße, rein in die abgeschlossene Enge von Ellings Gedankenwelt. Mit den Freaks aus „Weiße Nigger“ und den abgestürzten Detektiven der Krimis scheint der angepaßt- kleinbürgerliche Elling nichts zu tun zu haben. Schon zu Anfang von „Ausblick auf das Paradies“ wird deutlich, daß es sich um einen vorsichtigen Menschen handelt, immer peinlich sauber gewaschen, Nichtraucher und Nichttrinker.

„Jeder kennt so jemanden wie Elling“, sagt der Autor. In jeder Schulklasse gab es einen, der immer zu Hause bei Mutter war und das Ziel grausamer Demütigungen abgab.

Zweimal war Elling als Jugendlicher gefragt worden, ob er nicht küssen wolle. Eine fremde Zunge im Mund? „Einen klitschnassen Fleischklumpen voller Bakterien und Dreck. Ich hatte auf höfliche Weise abgelehnt.“ Noch als Erwachsener sehnt er sich nach einer keimfreien Variante von Vertrautheit, einer Vertrautheit, die ihm vom Leibe bleibt: als abstraktes Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Satellitenstadt oder als Annäherung an seine Mitmenschen per Fernglas.

Er blickt hinaus auf ein sozialdemokratisches Wohnparadies, dessen imaginäre Gemeinschaft von 40.000 Menschen ständig durch unbedachtes Fehlverhalten Einzelner bedroht zu werden scheint. Ob kleinere Ladendiebstähle oder Gewalttätigkeiten: Elling schwelgt in Errettungsphantasien, will die Verlorenen auf den rechten Weg bringen und den Reuigen vergeben.

Dabei sieht er sich durchaus als freundlicher Junge von nebenan. Nichts läge ihm ferner, als sein faktisches Außenseitertum mit aufsässiger Geste zur Schau zu tragen. Er will dazugehören, probt in Gedanken jenen Umgangston, der unter guten Bekannten im Wohnblock üblich ist – und geht zugrunde an seiner fiebernden Zwanghaftigkeit und am verzweifelten Verlangen, sich und seine Umwelt kontrollierbar zu machen.

Den sonst von Rezensenten so gelobten I've got the blues-Ton sucht man in diesem Ambjörnsen- Roman vergeblich. Es ist kein cooler Slang, sondern eine nüchterne, distanzierte Sprache, mit der das Leben eines Einsamen protokolliert wird.

„Ausblick auf das Paradies“ ist ein beklemmendes und obszönes Buch, streckenweise nicht ohne bittere Komik. Daß hier einem biederen Sozialdemokraten in die abgründige Seele geschaut wird, macht es um so provozierender.

Ingvar Ambjörnsen: „Ausblick auf das Paradies“. Roman. Rasch und Röhring Verlag 1995, 208 Seiten, geb., 36 DM.