„Die Frau ist nicht normal gestorben“

Zwei Wochen nach dem Tod von Gülnaz Baghistani ist die Todesursache noch immer unbekannt. Haben die Organisatoren des Hungerstreiks aus der Kurdin eine Märtyrerin gemacht?  ■ Aus Berlin Jan Pahler

Wie starb Gülnaz Baghistani? Die Umstände, die zum Tod der 41jährigen Kurdin und fünffachen Mutter führten, sind nach wie vor ungeklärt. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden soll. Es bestehe die Möglichkeit, erklärte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Rüdiger Reiff gegenüber der taz, daß die Organisatoren des Hungerstreiks den Tod von Baghistani wissentlich in Kauf genommen hätten, um sie zur Märtyrerin zu stilisieren. Dafür spreche auch, daß bereits wenige Stunden nach Baghistanis Tod Plakate mit ihrem Konterfei aufgehängt waren.

Wie berichtet, war Gülnaz Baghistani am 27. Juli gestorben, an einem Donnerstag. Sie hatte acht Tage an einem Hungerstreik an der Berliner Gedächtniskirche teilgenommen. Am Mittwoch morgen, dem 26. Juli, hatte die Polizei die Mahnwache aufgelöst. Daraufhin zogen die mehr als 100 Hungerstreikenden zu Fuß in ein acht Kilometer entferntes kurdisches Kulturzentrum in Berlin-Kreuzberg. Dort starb die Asylbewerberin, die aus dem Irak stammte und seit acht Monaten in Osnabrück lebte, einen Tag später. Die Hungerstreikenden, deren Aktion noch immer läuft, wollen sich mit den kurdischen Häftlingen in türkischen Gefängnissen solidarisieren.

Die letzten Stunden von Gülnaz Baghistani lassen sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Notärzte, Feuerwehr, Polizei, Kurden und die Staatsanwaltschaft machen widersprüchliche Angaben.

Die offizielle Version

Anlaß für die staatsanwaltlichen Ermittlungen sind Aussagen einer Journalistin. Sie habe gehört, wie Kurden gedroht hätten, sich selbst anzuzünden, falls die Hungerstreik-Mahnwache aufgelöst würde. Außerdem hätten die Kurden gesagt, unter den Hungerstreikenden sei eine herzkranke Frau, die dabei „draufgehen“ würde. Ein Polizeisprecher sagte, man habe den Hungerstreikenden ärztliche Hilfe angeboiten, die Organisatoren des Hungerstreiks hätten dies aber abgelehnt, weil kurdische Ärzte den Demonstrationszug begleiteten. Gülnaz Baghistani war von der Gedächtniskirche nach Kreuzberg mitgelaufen.

Fest steht, daß an besagtem Donnerstag bei der Berliner Feuerwehr jemand aus einer öffentlichen Telefonzelle anrief und um Hilfe bat, da sich im Kultzurzentrum eine bewußtlose Frau befinde. Der Anruf erfolgte laut Protokoll um 12.37 Uhr, um 12.41 Uhr traf ein Rettungswagen ein, um 12.43 Uhr kam eine Notärztin aus dem Bundeswehrkrankenhaus in Berlin-Mitte. Zu diesem Zeitpunkt war Gülnaz Baghistani bereits tot.

Nach vergeblichen Reanimationsversuchen stellte die Notärztin um 14.01 Uhr den Tod von Baghistani fest, im Totenschein kreuzte sie als Todesursache „ungewiß“ an. Das ist gängige Praxis, wenn Notärzte die Patienten nicht kennen. Die Ärztin wollt den Leichnam in die Pathologie überstellen, was ihr aber von den Kurden verweigert worden sei. Die Notärztin, heißt es aus dem Krankenhaus, habe „Angst“ und stehe für ein Gespräch nicht zur Verfügung.

Gegen 15 Uhr kamen zwei Kriminalbeamte ins Kurdische Zentrum, um die Leiche von Gülnaz Baghistani zu untersuchen. Die Beamten stellten kein Fremdverschulden fest. Einem Gerichtsmediziner, der gegen 17 Uhr im Kurdischen Kulturzentrum eintraf und als dritter die Leiche examinieren sollte, verweigerten die Kurden den Zutritt. Erst nach fünf Stunden wurde der Mediziner eingelassen. In diesen fünf Stunden hatten die Kurden den Leichnam mit einer Fahne der PKK-Unterorganisation ERNK sowie mit gelben und roten Rosen geschmückt. Auch der Gerichtsmediziner stellte „keine Anhaltspunkte für äußere Gewalteinwirkung“ fest.

Gegen 22.30 Uhr gab die Staatsanwaltschaft den Leichnam frei. Bis heute ist die Todesursache nicht geklärt, denn die Leiche wurde nicht obduziert — obwohl bei „Todesursache ungewiß“ in der Regel eine Obduktion angeordnet wird.

Staatssekretär Detlef Borrmann vom Justisenat erklärte gegenüber der taz, daß man auf eine Obduktion des Leichnams verzichtet habe, da die Organisatoren des Hungerstreiks dagegen gewesen seien. Er halte diese Information für „glaubhaft“, da die Staatsanwaltschaft „eigentlich recht großzügig obduziert“. Soll heißen: oft. Aus der Senatsverwaltung für Inneres verlautet, die Organisatoren hätten mit „Unruhen“ und „Bürgerkrieg in Berlin“ gedroht, falls die Leiche obduziert würde.

Die Versionen der Kurden

Ein Sprecher der Kurdischen Gemeinde behauptet gegenüber der taz, Gülnaz Baghistani sei nach Auflösung des Hungerstreiks an den Folgen des Fußmarsches und an „Depressionen“ gestorben — angeblich bereits am Mittwoch. Auch eine andere Hungerstreikende, die neben Baghistani auf der Matratze gelegen hat, behauptet, Baghistani sei am Mittwoch gestorben. Andere kurdische Frauen widersprechen dieser Version. Baghistani habe am Mittwochabend noch getanzt, „viel geredet“ und Zigaretten geraucht.

Ein Sprecher des Kurdischen Kulturvereins in Osnabrück — wo Gülnaz Baghistanis Ehemann Kurdisch lehrt — erklärte der taz, Frau Baghistani sei „total gesund“ gewesen. Sie sei an „inneren Verletzungen“ gestorben, die sie durch Knüppelschläge der Berliner Polizei erhalten habe. Herr Baghistani, der seine Telefonnummer aus dem Telefonverzeichnis der Telekom hat streichen lassen, sei zur Zeit nicht in Osnabrück, sondern „auf Veranstaltungen“.

Überhaupt, erklärte der Sprecher, verstünde er nicht, daß „die Medien alles“ auf den Tod von Gülnaz Baghistani „reduzieren“. Dabei seien 10.000 Kurden im Hungerstreik und Frau Baghistani nicht die erste, die gestorben sei. Auch ihr Mann, der am Tag ihres Todes nach Berlin gereist und dort mit dem Ruf „Märtyrer sind unsterblich“ empfangen worden war, sei „traurig“; es werde „nur noch“ über den Tod seiner Frau gesprochen. Dabei sei sie schließlich für „eine politische Sache“ gestorben. Im Berliner Kurdistan-Zentrum redet man ähnlich: „Ohne Opfer geht es nicht.“

Die Version des Arztes

Hassan Mohamed-Ali, Internist und Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Berlin, findet es unverständlich, daß Baghistani nicht obduziert worden ist: „In der kurdischen Tradition sind Obduktionen nicht verboten.“

Mohamed-Ali hat Frau Baghistani noch am Vorabend ihres Todes untersucht und einen niedrigen Puls festgestellt. Das ist bei Hungerstreikenden üblich. Er bat die Frau deshalb, Treppen zu steigen. Ihr Puls stieg auf 60, „also ausgezeichnet“, sagt Mohamed-Ali. Sie habe sich „wohl gefühlt“.

Der kurdische Arzt kann sich vorstellen, daß Gülnaz Baghistani an einer Herzrhythmusstörung gelitten hat. Die Frau selbst aber habe ihm gesagt, sie sei völlig gesund. Mohamed-Ali dazu: „Aber ein gesunder Mensch stirbt nicht nach acht Tagen ohne Nahrung. Diese Frau ist nicht normal gestorben.“

Wenn Gülnaz Baghistani tatsächlich herzkrank war und die Organisoren des Hungerstreiks das gewußt haben, können sie wegen unterlassener Hilfeleistung oder wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung belangt werden.

Eine Obduktion hält der Mediziner Mohamed-Ali auf jeden Fall für zwingend: „Mich interessiert sehr, warum Gülnaz Baghistani gestorben ist.“