"Kruzifixe allüberall"

■ Daniel Drascek befaßt sich an der Uni München mit religiösem Brauchtum

taz: Herr Drascek, noch hängt in jedem Klassenzimmer in Bayern ein Kruzifix, und diverse CSU- Politiker wollen sie dort auch unbedingt hängen lassen. Ist das aus Ihrer Sicht als Volkskundler Bigotterie oder Brauchtum?

Daniel Drascek: Ich denke, daß die Bedeutung der Kreuze hier sehr viel mit der süddeutsch-katholischen Tradition zu tun hat. Hier gab es eben keinen Bildersturm wie im Protestantismus, der die Zahl der religiösen Symbole drastisch verringert hat.

Im Gegenteil: Die Gegenreformation im 17. und 18. Jahrhundert setzte ja ganz stark auf eine sinnlich wahrnehmbare Religion. Dazu gehören eben Kreuze in verschiedensten Bereichen des Alltags und auch der sogenannte „Herrgottswinkel“, den es gerade auf dem Land noch immer in vielen Wohnungen gibt. So wird Religion greifbar.

Selbst Franz Beckenbauer soll einen solchen Herrgottswinkel in seiner Wohnung haben, wie mir ein Kollege erzählt hat.

Doch die Frage ist doch, ob diese religiösen Symbole heute noch im Alltag eine bestimmte Bedeutung haben.

Da hat sich sicher auch in Bayern vieles geändert. Ich denke, daß das Verständnis für viele der alten Kulte verschüttet ist. So gibt es ja in vielen Barockkirchen Altäre, in denen offen sichtbar sogenannte „heilige Leiber“ liegen. Diese Gebeine wurden nach der Öffnung vieler Katakomben in Rom im 17. Und 18. Jahrhundert von dort in alle Welt verschickt und in vielen Kirchen als Märtyrer angebetet. Auch das Prestige von Wallfahrtsorten hing davon ab, wieviele solcher „Katakomben-Heiliger“ man vorweisen konnte.

Später wurden diese Skelette in den Kirchen dann oft hinter Vorhängen verborgen oder auch richtig bestattet – weil viele Gläubige mit dem Brauch in einer zunehmend säkularisierten Welt eben nichts mehr anfangen konnten. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden etliche der Altäre wieder so gestaltet, wie sie im Barock waren. Doch das ging häufig auf Kunsthistoriker zurück, die die barocke Fassung wiederherstellen wollten ...

In einem kleinen Ort in Bayerisch-Schwaben gibt es sogar heute noch eine sogenannte „Leiberprozession“. Dort werden einmal im Jahr die Gebeine eines Heiligen bei einer Prozession mitgeführt. Doch dieser Brauch ist nicht typisch für das heutige religiöse Bewußtsein in Bayern, und selbst der örtliche Pfarrer hat schon erklärt: Sobald die erste Fernsehkamera dabei ist, wird das beendet.

Heißt das, daß diese religiösen Bräuche letzten Endes dann doch bedeutungslos sind?

Sicher nicht. Ich denke, gerade in ländlichen Gebieten Bayerns hat die Religion noch immer eine erhebliche Wirkkraft. Es gibt eben noch Menschen, die täglich vor ihrem Herrgottswinkel beten. Das gehört bei ihnen zum Tagesablauf wie das Frühstück – und zwar aus religiösen wie auch aus psychosozialen Gründen: Es rhythmisiert den Tagesablauf und hilft, eine vertraute Welt aufzubauen.

Insofern ist dieser Glaube vieler Menschen auf dem Land deutlich anders als die Formen von Religiosität in einem protestantischen Dorf irgendwo in Norddeutschland. Allerdings: Die Großstädte München und Berlin dürften sich weit ähnlicher sein als solche Dörfer.

Wie erklären Sie sich denn den Aufschrei der Politiker quer durch die Bundesrepublik?

Ich habe den Verdacht, daß das künstlich problematisiert wird. Denn gerade die „C“-Parteien haben ja auch einen Prozeß der Säkularisierung durchgemacht, und ich vermute, daß ihre Mitglieder nicht wesentlich häufiger in die Kirche gehen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Offensichtlich geht es den Politikern auch darum, das politische Profil ihrer Partei zu schärfen.

Interview: Felix Berth