Mein ausgeleiertes, altes Herz ...

■ Phantastisch, uferlos, ermüdend: Oldenburg feiert an fünf Orten seinen Hauskünstler Horst Janssen

Mammutausstellungen bedeuten Maximaleinsatz an Konzentration und Ausdauer. Wie anstrengend es sein kann, rund 750 Grafiken, Zeichnungen und Kritzeleien zu passieren oder gar zu studieren, noch dazu in vier unterschiedlichen Museen und Kulturinstituten – das beweist in ihrem Jubiläumsjahr die Stadt Oldenburg. Seit gestern huldigt die Stadt, in der der malende Zeichner Horst Janssen elf Jahre Kindheit verbracht hat, ihrem Ehrenbürger und Herzeigekünstler mit einem kompakten Kunstpaket. Das birgt für die BesucherInnen die Gefahr der Ermüdung, aber auch die Chance, bisher unbekannte Facetten dieses Künstlers zu entdecken.

Den Superlativ innerhalb der Superlativschau bietet das Stadtmuseum mit der Ausstellung „Radierzyklen“. Zum ersten Mal werden hier sämtliche 47 Radiermappen ausgebreitet. Und das bedeutet: Alurahmen mit etwa 500 Grafiken drängeln sich an Wänden, Zwischenwänden und in Vitrinen. Selbst in den Fluren sind Drucke sowie deren Schuber und Einbände zu sehen. Schade, denn der Katalog mit sämtlichen 900 abgebildeten Grafiken hätte dem Streben nach Vollständigkeit bereits genügt.

Weil sich die Museumsleitung um Akzentuierung und Reduzierung herumgemogelt hat, ermüdet dieser Ausstellungspart. Um sich auf die feine Strich- und Flächenätzung und die samtig-matten Kaltnadelstriche zu konzentrieren, fehlen im Stadtmuseum Muße und Atmosphäre.

Die Chance dabei: ZuschauerInnen bekommen in dieser Fülle auch selten gezeigte Blätter wie die jugendlich gekritzelte Botschaften mit dem Titel „Ambitionös“ zu sehen. Sie erleben, wie knappe, verfremdete Aktstudien, einer gewissen „Bettina“ gewidmet, Landschaften mit Titeln wie „Froschland“, Selbstporträts, ein schaurig-schönen „Totentanz“ und bizarre Pflanzenwucherungen aus dem „Laokoon“-Zyklus immer wiederkehrenden Themen wie Liebe, Angst und Tod vorbereiten.

Konzentrierter gehen die anderen Museen mit dem Künstler um. Besonders geglückt ist die Präsentation des „Lamme-Zyklus“ im Oldenburger Kunstverein, Janssens vorerst letztes großes Werk. In einer Art gezeichnetem Tagebuch verehrt der Zeichner seine Tochter, die nach 30 Jahren Trennung plötzlich wieder in seinem Leben aufgetaucht war. In 72 großformatigen Bleistiftzeichnungen, mit Aquarellfarben, Buntstiften und Deckfarben koloriert und durch Skizzen und Grafiken ergänzt, zeigt er die schöne Lamme, in Träumen versunken, die kranke Lamme mit rotgeränderten Augen, die schlafende Lamme, liebevoll in eine Decke gekuschelt, und schließlich die erotische Lamme, mit einem Kater im Schoß als Akt posierend.

Janssens Bekenntnis lautet: „Lamme ist die entzückendste Unruhe im Uhrwerk meines ausgeleierten, alten Herzens. In ihr vereinen sich alle Gegensätze zu einem stillen Feuer, das schon so manchen ,Gegenstand' erwärmt oder verbrannt hat. Man sollte nicht unbedenklich in ihre Augen kucken!!!“

Von diesen gaukelnden Liebeserklärungen des alternden Fauns sind es nur wenige Schritte zum Augusteum des Landesmuseums, in dem über 50 frühe Farbholzschnitte hängen. Ein Kontrastprogramm in tristen Farben. An die goldenen Regeln traditioneller Grafiker, die auf identische Drucke setzen, das zeigt die Ausstellung, hält sich Janssen nicht. Mit dem geschnittenen Holzstock hat er vielmehr in die feuchte Grundfarbe gedruckt, um anschließend nach Lust und Laune zusätzliche Farben mit der Hand einzustempeln. Jeder Druck ist eine Art Unikat.

Am Ziel des Janssen-Marathons ist erst, wer auch den letzten Kilometer in Richtung Oldenburger Artothek zurückgelegt hat. Hier hat die Stadt nochmal 100 Buchillustrationen versammelt. Belege dafür, wie leidenschaftlich Janssen Text und Bild, Fotos, Radierung und Federzeichnung kombiniert. Zum Teil dienten Kalenderblätter und Comics als Fonds. Für das Romanfragment „Drollerei“ (von 1991) hat auf zartes Papier hingeworfene Klecksereien mit spitzer Feder in filigrane Aquarelle verwandelt.

Horst Janssen indes kann das Spektakel mit Drollerei, Lamme-Huldigung und Laokoon, das ganze Tamtam um seine Person nicht selbst erleben. In seiner Blankeneser „Burg“ erholt er sich derzeit von den Folgen eines schweren Schlaganfalls. Liebesgrüße an Oldenburg hat jedoch Katja Töner zur Eröffnung übermittelt, die wie die Oldenburger Stadtväter und Lamme zu den großen VerehrerInnen zählt. Zwar rühre sich die rechte Hand des 65jährigen nicht, das rechte Bein verweigere sich, Janssen benutze eine unverständlichen Geheimsprache – aber sprachlos sei er deshalb nicht, teilte sie mit. Wann er wieder zeichen kann, bleibt jedoch ungewiß. Sabine Komm

Alle Ausstellungen laufen bis 30. September; zur Ausstellung im Stadtmuseum erscheint ein Katalog und Werkverzeichnis sämtlicher Radierzyklen