Begegnungen
: „Die dachten, ich bete die Sonne an“

■ Die Engländerin Lyn Eileen ist Flohmarktdichterin

Die einen halten sie für verrückt, andere hören ihr belustigt zu: Die 43jährige Engländerin Lyn Eileen verkauft seit Jahren ausrangierte Dinge auf dem Kiezmarkt in der Köpenicker Straße in Mitte – und trägt dort ihre Gedichte vor. Auch wenn keiner zuhört, beschallt sie mit großer Leidenschaft in der Stimme den Platz mit den alten Schuhen, Büchern und Geschirr. Längst hat sie sich daran gewöhnt, von vielen für bekloppt gehalten zu werden. Wer sie beschimpft, dem schenkt sie ein Lachen. Es passiert nicht selten, daß sie jemandem, der für fünf Mark etwas von ihrem Stand kauft, eine Mark für einen Tee gibt – und ein Gratisgedicht dazu.

„Als mir vor drei Jahren mein Stand mit ausrangiertem Kram aus meiner Wohnung zusammenbrach, hatte ich die Schnauze voll, nahm einen Zettel und schrieb mein erstes Gedicht: ,Ein kleiner Flohmarkt in Berlin, der glotzt in den Himmel rin. Die Menschen, die da kommen, die werden gerne angenommen. Bei Pommes mit Ketchup in den Schlund sind sie alle rund und gesund. Sie ratschen, tratschen, meckern, quatschen, lassen die Beene in den Latschen, keine Knete in den Taschen. Halt, eine Mark, die hab' ich noch, kauf' mir einen heißen Tee, denn der geht runter bis zum Zeh.‘

Als ich mich auf einen Schemel stellte und zum ersten Mal meine Gedichte vortrug, haben mich die Leute angeglotzt. Das war mir sehr unangenehm. Das war ein komisches Kribbeln im Bauch. Die dachten, ich bete die Sonne an und hielten mich für verrückt.

Foto: Barbara Bollwahn

Die haben gedacht, daß ich nicht ganz dichte bin. Ich schreibe über das Leben, über normale Menschen, die keine hunderttausend Mark haben. Manchmal verschenke ich meine Sachen am Stand einfach. Dafür müssen sich die Leute, ob sie wollen oder nicht, meine Gedichte anhören. Es gibt immer noch Menschen, die machen außergewöhnliche Sachen, da braucht man nicht lachen. Über mich kann man auch lachen, das tut mir nicht weh. Man kann ruhig Scheiße sagen, aber diese Spuckereien kann ich nicht leiden. Es gibt Menschen, die benehmen sich daneben. Es hat lange gedauert, bis ich es geschafft habe und mich durchgebissen habe. Dazu gehören Tränen und Hornhaut. Denn ich bin eine Frau und kein Mann. Was ich hier gemacht habe, würde mancher Mann nicht für 100.000 Mark machen.

In den drei Jahren habe ich gelernt, manchmal die Ohren zu schließen. Oft braucht man viel Geduld und Nerven. Viele Menschen, die hierherkommen, sind nämlich nicht sehr nett. Und da muß man, das ist ein Erfahrungswert, viel Humor haben. Sonst kann man keine Flohmarktdichterin sein. Und eine große Klappe muß man haben. Ich habe keinen akademischen Grad oder so was. Aber man muß auch Psychologin sein. Manchmal lernt man aber das Lachen wieder. Ich mache das für mich. Ich habe die Flohmarktballade entdeckt. Das, was ich erlebt hab, hab ich einfach aufgeschrieben. Mein zweites Buch wird wie auch das erste „Aus dem Bauch“ heißen. Dafür suche ich noch einen Verleger. Ich würde auch gerne im Radio auftreten. Sonst bin ich eigentlich glücklich. Mein Rücken ist zwar ein bißchen morsch und manchmal stinkt es mich ganz schön an, früh aufzustehen, die Katze zu füttern, den Hund Gassi zu führen und von Wilmersdorf hierherzufahren. Aber das stecke ich alles weg, nur um die Flohmarktdichterin zu sein.

Mittlerweile bin ich soweit, daß ich auch in der Waldbühne auftreten könnte. Das wäre, als ob mir jemand eine Valium gegeben hätte, wenn die Leute dort alle ruhig wären. Denn wenn ich hier auftrete, schreit dort einer ,schneller, schneller‘, ein anderer fragt, ob ich einen Kaffee will, ein Dritter ruft, daß er mal auf Toilette muß. Ich werde mich demnächst als Marktschreierin anmelden, weil ich ein Marktweib bin. Ich stehe dazu. Falls das nicht geht, werde ich mich als Mann verkleiden. Barbara Bollwahn

wird fortgesetzt