Tschetschenien braucht maximale Autonomie

In Grosny wird verhandelt und geschossen. Ein Militärabkommen wurde geschlossen, völlig unklar ist jedoch der zukünftige politische Status Tschetscheniens. Wird die „souveräne Republik“ Teil der russischen Föderation bleiben?  ■ Von Uwe Halbach

Das am 30. Juli unterzeichnete Militärabkommen zwischen Moskau und Grosny gilt als ein Durchbruch auf dem Weg zur Beendigung des Kriegs in Tschetschenien. Es wurde zwar von fortgesetzten Kämpfen überschattet, aber verdeutlichte doch einen tatsächlichen Fortschritt: Die Übereinkunft war möglich geworden, weil die russische Seite die Regelung des Status der abtrünnigen Republik auf einen späteren Zeitpunkt verschoben hatte. Dadurch rückten besser verhandelbare Punkte, militärische, administrative, auf die Wahlen bezogene Probleme, in den Vordergrund.

Freilich schrieb die russische Seite ihre Nichtanerkennung der tschetschenischen Republik in das Abkommen ein, bekräftige aber zugleich, daß die tschetschenische Delegation sein Garant sei. Moskau verhandelt mit einer Republik, die es nicht anerkennt, mit Vertretern eines Regimes, das es nicht mehr geben und das von einer Kandidatur bei den Wahlen im Herbst ausgeschlossen werden soll – einer der vielen Widersprüche im russisch-tschetschenischen Verhältnis.

Der Hauptwiderspruch betrifft die Statusfrage. Wie kann zwischen der nach wie vor mit Nachdruck vertretenen tschetschenischen Unabhängigkeitsbehauptung und der von nahezu allen politischen Kräften Rußlands vertretenen Auffassung, Tschetschenien gehöre verfassungsgemäß zur Föderation, vermittelt werden? Dazwischen erstreckt sich in der Statusfrage ein Übergangsfeld, auf dem Rußland sein Verhältnis zu einigen kritischen Föderationssubjekten flexibel geregelt hat. Es ist die Frage, ob auf diesem Feld auch Tschetschenien angesiedelt werden kann.

Wenn der Dumavorsitzende Iwan Rybkin dieser Tage sagte, Tschetschenien könne keinen anderen Status erwarten, als ihn Bayern in der Bundesrepublik hat, verkennt er nicht nur die Problematik der Beziehungen zwischen Rußland und dem Nordkaukasus, sondern auch die gegenwärtige Entwicklung der russischen Föderation. Die ist nämlich nicht mit einem Bundesstaat wie Deutschland zu vergleichen, und schon gar nicht Tschetschenien und sein Verhältnis zur „rußländischen Staatlichkeit“ mit der Beziehung eines Bundeslandes, und sei es Bayern, zum Bundesstaat.

Rußland besteht heute aus 89 „Föderationssubjekten“. Sie bilden drei Kategorien von Gebietseinheiten:

1. „nationalstaatliche“ Subjekte: 21 Republiken mit nichtrussischen Titularnationen;

2. 57 administrative Gebietssubjekte: 6 Regionen, 49 Gebiete, zwei Hauptstädte;

3. „nationalterritoriale“ Subjekte: ein autonomes Gebiet und zehn autonome Kreise.

Entscheidend an dieser territorialen Struktur ist die statusmäßige Differenzierung der Gebietseinheiten, die der Föderation einen „asymmetrischen“ Charakter verleiht.

Die Föderalisierung Rußlands nach dem Zerfall der Sowjetunion durchlief verschiedene Phasen. Einer wilden „Dezentralisierung“ 1992-93, bei der regionale Eliten die politische Schwäche der Zentrale in Moskau, den Machtkampf zwischen Jelzin und dem Parlament, weidlich ausnutzten, folgten nach der Wende vom Oktober 1993 Ansätze einer „Rezentralisierung“ durch eine erstarkte präsidiale Exekutive. Durchgesetzt wurde nun eine Verfassung, die von einer einheitlichen Föderation mit gleichgestellten Subjekten und nur einer Souveränität ausgeht: die der Föderation.

Doch auch unter veränderten Machtverhältnissen ließ sich diese einheitliche Föderation nicht erzwingen. Besonders in einigen Republiken war der Souveränitätsprozeß zu weit gediehen, um einer staatsrechtlichen Nivellierung nachzugeben. Die per Referendum im Dezember 1993 verabschiedete Föderationsverfassung stieß in zehn Republiken auf Widerstand. Bis heute bestehen zwischen ihr und einzelnen Republikverfassungen krasse Widersprüche, besonders in bezug auf die „staatliche Souveränität“, die sich die Republiken zusprechen.

1994 trat Moskau in eine Strategie der vertraglichen Machtteilung zwischen dem Zentrum und den Subjekten ein, die einer Vereinheitlichung der Föderation entgegengesetzt war: In einem Regelungsvertrag mit Tatarstan handelte Moskau mit einem Föderationssubjekt, das seine Zugehörigkeit zu Rußland bis dahin in Frage gestellt hatte, bilateral eine Reihe von Sonderbedingungen aus.

Es gewährte der Republik ein hohes Maß an Selbstbestimmung bei der Verfügung über die eigene Wirtschaft, in der Steuerpolitik, ja sogar der Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Allerdings zeigte sich bei Kommentaren zum ersten Jahrestag des Abkommens, das seine juristische Auslegung auf beiden Seiten stark divergiert. Tatarstan leitet aus ihm Prinzipien wie „Landesrecht bricht Bundesrecht“ und die Anerkennung seiner 1992 verabschiedeten Verfassung ab. In ihr ist von der „staatlichen Souveränität“ und vom Status eines Völkerrechtssubjektes die Rede. Es folgten 1994 und 1995 weitere bilaterale Machtteilungsverträge mit einigen Republiken und administrativen Gebietseinheiten.

Gegen diese regionalpolitische Strategie kam Widerstand auf – nicht nur im Lager der links- und rechskonservativen Jelzin-Gegner, die von der Dezentralisierung und Föderalisierung nichts hielten und ein starkes, unitäres Rußland forderten. Kritik äußerten auch Politiker, die als „Demokraten“ und „Reformer“ etikettiert worden waren. So bekundete der ehemalige Finanzminister Boris Fjodorow ein Unbehagen an der asymmetrischen Föderation mit ihren Autonomie-Enklaven.

Im sich verschärfenden Disput über die Föderation rückte seit Frühjahr 1994 das schwierigste aller „Föderationssubjekte“ in den Mittelpunkt: die tschetschenische Republik, die schon im November 1991 ihre staatliche Unabhängigkeit deklariert und sich von Rußland und den nachfolgenden Etappen seiner postsowjetischen Staatsbildung wie dem Föderationsvertrag von 1992 und der Verfassung von 1993 getrennt hatte.

Wie wir wissen, ging Moskau in diesem Fall nicht den Weg der Verhandlung, den es sich durch die Tabuisierung des Dudajew-Regimes verbaut hat. Tschetschenien sollte mit Gewalt in die Föderation zurückgeholt werden, zunächst durch militärisch-geheimdienstliche Einmischung in innertschetschenische Machtkämpfe, schließlich durch den Krieg, der für eine fatale Regression in der Entwicklung Rußlands steht.

Bei der Suche nach friedlicher Konfliktregelung ging man von der „Tatarstan-Variante“ aus. Ein Dumaabgeordneter aus Tatarstan schlug im März einen „Vertrag über konföderative Beziehungen“ vor, der Tschetschenien mit einem noch höheren Souveränitätsstatus, als Tatarstan ihn hat, in die Föderation zurückführen soll. Die andere Richtung im Föderationsdiskurs behandelt dagegen Tschetschenien als gewöhnliches Föderationssubjekt, das sich gefälligst russischer Übermacht zu beugen und eben bestenfalls in einem Status einzurichten hat, wie ihn Bayern in der Bundesrepublik einnimmt.

Tschetschenien widerstrebt dem Vergleich nicht nur mit Bayern, sondern auch mit Tatarstan. Es ist mit keinem anderen Bestandteil Rußlands zu vergleichen. Der Souveränisierungsprozeß, der die nationalen Gebietseinheiten Rußlands durchlaufen hat, basierte überwiegend auf dem Bestreben lokaler Eliten, gegenüber Moskau wirtschaftliche und politische Freiräume und Machtpositionen zu gewinnen. Dabei wurde zwar auch die ethnische Selbstbehauptung der Titularnationen ins Feld geführt, aber von einem von mächtigen Nationalbewegungen getragenen „ethnischen Sezessionismus“ konnte nirgendwo die Rede sein.

Dafür waren die politischen und ethno-demographischen Voraussetzungen kaum gegeben: In 14 von 21 Republiken macht die namengebende nichtrussische Nation weniger (oft weit weniger) als die Hälfte der Gebietsbevölkerung aus und steht einer russischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber. Klare Majorität hat sie nur in zwei Republiken (Tuwa und Tschuwaschien). Auch im polyethnischen Dagestan bilden die einheimischen Nationalitäten zusammen den Großteil der Bevölkerung.

Nur bei solchen Föderationssubjekten kann die Eigenart der nichtrussischen Stammbevölkerung so weit zum Tragen kommen, daß man hier vom „inneren Ausland“ Rußlands sprechen kann. Um so mehr, wenn diese Gebiete Kulturkreisen wie dem islamischen oder dem buddhistischen angehören. Aber auch in diesen Fällen ist die infrastrukturelle und wirtschaftliche Verflechtung mit Rußland so groß, daß nicht automatisch auf „nationalen Sezessionismus“ geschlossen werden kann. So haben sich selbst die nordkaukasischen Republiken, in denen ethnisches, historisches, kulturelles Sezessionspotential vermutet wurde, mit ihren sowjetisch geprägten konservativen Führungen als relativ feste Bestandteile der Föderation erwiesen.

Tschetschenien bildet einen Sonderfall: In keiner nationalen Gebietseinheit Rußlands ist der Anteil der Titularnationen heute größer, nirgendwo das nationale Bewußtsein in einem gegen Rußland gerichteten Sinne schärfer profiliert als hier. Dabei wurden die wesentlichen Elemente dieses Sonderprofils durch den Krieg noch verstärkt: Tschetschenien wurde noch tschetschenischer als vorher, nachdem die durch Abwanderung bereits dezimierte russische Bevölkerung durch die russische Armee aus dem Land herausgebombt wurde. Um sich ihrer Abneigung gegen russische Oberherrschaft zu vergewissern, müssen sich die Tschetschenen heute nicht auf Gewalt- und Vernichtungsaktionen gegen ihr Volk durch „rußländische Staatlichkeit“ von Nikolaus I. bis Stalin besinnen. Sie haben die tiefsten Spuren dieser Gewalt heute unmittelbar vor Augen.

Wenn die Reintegration Tschetscheniens, dem zur Eigenstaatlichkeit und Lostrennung von Rußland tatsächlich die notwendigen wirtschaftlichen und politischen Ressourcen von vornherein fehlten, nicht auf purem Zwang basieren soll, müssen diese Besonderheiten in Moskau auf das sorgfältigste bedacht werden. Dann jedoch kann Tschetschenien nur auf der Grundlage maximaler Autonomie in die Föderation zurückgeführt werden. Wer Tschetschenien allen Ernstes für einen „integralen Bestandteil“ hält, muß zur Kenntnis nehmen, daß die neuerliche Militärintervention nur das (vorläufig?) letzte Glied in einer langen Kette gewaltsamer Integration war. Auf keine andere Gebietseinheit Rußlands trifft dies in diesem Maße zu.

Die Unvergleichbarkeit Tschetscheniens stellt ein zentrales Rechtfertigungsargument in Frage, mit dem Moskau den Krieg zu legitimieren versuchte. Der Dominoeffekt, den es der tschetschenischen Sezession in Hinsicht auf den Gesamtbestand der Föderation unterstellte und aus dem es die Notwendigkeit der Militärintervention ableitete, trat nicht ein.

Wie soll es nun weitergehen? Werden am 5. November tatsächlich „freie Wahlen“ in Tschetschenien stattfinden? Werden sich politische Kräfte zur Wahl stellen können, die offen für die staatliche Unabhängigkeit eintreten? Daß Rußland auch ein plebiszitäres Votum für die Unabhängigkeit nicht akzeptieren wird, hat es durch ständige Berufung auf die angeblich verfassungsgebotene Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Föderation deutlich gemacht.

Wie weit wird die Autonomie, die dem Land zugebilligt werden soll, gehen können? Tschetschenien werden analog zu Tatarstan oder Jakutien relativ weitgehende wirtschaftliche und fiskalische Freiräume gewährt werden, auch eine eigene Polizei und nationale Hoheitssymbole, eine eigene Verfassung sowieso. Aber Moskau wird Grosny wohl kaum eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik gestatten, denn seine Hoheit über Tschetschenien ist ein Kernpunkt russischer Sicherheitspolitik im Kaukasus.

Im Unterschied zu Tatarstan liegt Tschetschenien in der brisantesten strategischen Zone, die sich aus dem sowjetischen Raum herausgeschält hat: im kaukasisch- kaspischen Hitzefeld, wo sich ethno-territoriale Konfliktzonen mit den Interessen für Erdölquellen und Pipelinerouten überschneiden.

Wer verfügt in Tschetschenien über genügend nationale Autorität, um einen Kompromiß zu vermitteln? Dudajew wohl kaum noch, und die Opposition gegen ihn wurde durch das Eingreifen der „Partei des Krieges“ in Moskau zu Quislingen gemacht. Was also die Statusfrage betrifft, stehen noch harte Auseinandersetzungen bevor.