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Die „Nataschas“, ihre Kunden und das Geld

Prostituierte aus der GUS haben das Leben im nordtürkischen Ort Trabzon verändert. Männer verlieren den Kopf und ruinieren sich und ihre Familien.  ■ Aus Trabzon Antje Bauer

Der Winter dauert hier zehn Monate. Aber auch während der zwei Sommermonate verirrt sich kaum mal ein Tourist nach Trabzon“, stellt der Antiquar illusionslos fest. Zwischen alten Kupferkannen und verzinnten Schalen hindurch schaut er auf die Straße. „Bis vor ein paar Jahren war hier der absolute Stillstand“, fährt der Antiquar fort, „bis die Russen kamen. Seither verdient ausnahmslos jeder sein Brot durch die. Gott möge es nicht zulassen, aber wenn die Russen wieder wegmüßten, wäre hier die gesamte Wirtschaft am Boden.“

Bei den „Russen“ handelt es sich eigentlich um Georgier, Aserbeidschaner, Armenier und Weißrussen. Sie haben es nicht weit bis Trabzon. Die Kleinstadt liegt an der türkischen Schwarzmeerküste, nur zweieinhalb Stunden Autofahrt von der georgischen Grenze entfernt. Seit 1988 im Zuge der Perestroika die sowjetischen Grenzen wieder geöffnet wurden, sind sie zu Hunderttausenden ins Land gekommen. Die Bevölkerung von Trabzon war dankbar dafür.

Viele „Russen“ brachten Geld mit. Die keins besaßen, schleppten in Koffern herbei, was sie zu Hause hatten ergattern können: Kupferkessel aus den fünfziger Jahren, Plastikwaren, Blech und Draht – Rohmaterialien und halbfertige Waren zumeist. Das verkauften sie spottbillig an die Händler der Region. Auch der Antiquar machte mit ihnen Geschäfte. Die Provinzhauptstadt Trabzon entwickelte sich bald zum Zentrum des Handels. Vor den Toren der Stadt entstand ein täglicher Markt, der schnell den Namen Russenmarkt erhielt und zu einer festen Einrichtung wurde.

Das Geld, das die „Russen“ in Trabzon verdienten oder mitgebracht hatten, gaben sie auch gleich wieder aus. Sie kauften alles: Ledermäntel und Schuhe, Kosmetikartikel und Radios, Kleidung und Kronleuchter. Im Sommer brachten Schiffe Frischgemüse nach Georgien. Die Region blühte auf.

Aber die Waren, die aus der zerfallenen Sowjetunion nach Trabzon kommen, werden immer knapper. Das zeigt ein Besuch des „Russenmarkts“ am Ortseingang. Eine lange Reihe überdachter Stände zieht sich hier an der Straße entlang. Überall stehen Minibusse, in denen die Kleinhändler angereist sind. Den besseren Teil des Marktes bestreiten die Einheimischen. Sie verkaufen dort Obst und Gemüse, Gewürze und Tee, Haushaltwaren und Porzellan, wie auf jedem türkischen Markt. Dahinter liegt der eigentliche Russenmarkt. Und der ist ärmlich bestellt. Dick eingemummelte ältere Frauen sitzen dort vor Kabelresten, wertlosem Plastikkitsch, billigem Glas und alten Elektrogeräten. Mehr ist aus dem vom Krieg zerrissenen Kaukasus offenbar nicht herauszuholen. Der einstige Warenumschlagplatz ist zu einem Flohmarkt geworden.

Daß der Wirtschaftsaufschwung in Trabzon dennoch nicht zurückgegangen ist und auch die Einreisenden nicht ausgeblieben sind, hat einen besonderen Grund. Von Anfang an hatte ein Teil der einreisenden „Russinnen“ das Geld in Trabzon durch Prostitution verdient. Je knapper die Waren wurden, die sie mitbringen und verkaufen konnten, desto mehr wuchs der Anteil der Frauen, die sich hier prostituierten. Heute sind die Mehrzahl der „Russinnen“ Prostituierte.

„Zu Anfang haben 80 Prozent der Frauen hier Handel getrieben und 20 Prozent haben sich prostituiert. Inzwischen ist es genau umgekehrt“, versichert Gürsel Gencsoy. Er weiß Bescheid, denn er ist Bürgermeister im Bezirk Iskenderpascha, dem Rotlichtviertel von Trabzon. Schon immer lagen hier die schummrigen, verrauchten Kneipen, in denen Trabzons männliche Bevölkerung Bier und Anisschnaps trank. Und in den heruntergekommenen, grauen Pensionen des Viertels steigen nun die „Nataschas“ ab, wie die ausländischen Prostituierten im Volksmund genannt werden. In einer Gasse betreibt Gencsoy eine Drogerie, in der er von Zeitungen über Wachs zum Entfernen der Beinhaare bis zu Poison und Chanel alles verkauft. Die teuren Parfums leisten sich allerdings nur die „Nataschas“.

Die männliche Welt von Trabzon reagiert auf die Prostituierten ausgesprochen erfreut. In den fünfziger Jahren war das einzige Bordell der Stadt geschlossen worden – angeblich, weil immer wieder Freier versucht hatten, den Alleinanspruch auf ihre Lieblingsnutte mit Pistolen durchzusetzen. In den Jahren danach hatte eine Frau versucht, auf eigene Faust diesem Gewerbe nachzugehen, und war bald von einer eigens gegründeten Antiprostitutionskommission der Stadt verwiesen worden. Seither waren die Männer gezwungen gewesen, den strengen Grundsätzen, die hier herrschen, auch in der Praxis Folge zu leisten. Mit der Ankunft der „Nataschas“ ist nun plötzlich möglich, wovon sie nie zu träumen gewagt hatten: Es gibt freien Zugriff auf Frauen, jederzeit.

Ab dem Nachmittag sitzen in den Cafés und Kneipen von Iskenderpascha junge, grellgeschminkte Frauen in knallengen Jeans und lächeln herannahende Männer verführerisch an. In den schmuddeligen Hotels herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Wer noch nicht dran ist, setzt sich auf ein Höckerchen in den Gang. „Ich hatte in Georgien mehrere Geschäfte“, sagt eine vierzigjährige Frau mit müdem Gesicht, die um Mitternacht in einer der Rendezvous-Kneipen sitzt. „Die sind jetzt alle kaputt. Jetzt arbeite ich hier in einer Haselnußfabrik, zusammen mit meiner Tochter.“ Die Tochter ist ein 15jähriges Mädchen mit einem blassen, aufgedunsenen, gepuderten Gesicht und nüchternen Augen. Daß sie sich prostituieren, gibt keine der Frauen offen zu.

Die Hoteliers sind erfreut, denn die Kundinnen sind zahlreich und bleiben immer gleich mehrere Wochen. Sie haben ihre Preise der gestiegenen Nachfrage angepaßt. Auch die Geschäftsleute sind zufrieden, denn das Geld, das die Frauen verdienen, setzen sie großenteils in Waren um, die sie mit zurücknehmen.

Sauer sind hingegen die Frauen von Trabzon. Von klein auf ist ihnen eingetrichtert worden, daß die höchste Tugend einer Frau ihre Ehre ist. Sie achten das islamische Gebot, daß Frauen nicht provozieren sollen, und zeigen sich in der Öffentlichkeit nur mit einem Wolltuch in gedeckten Farben auf dem Kopf. Sie heiraten früh und bekommen viele Kinder, weil sich das so gehört. Die Männer, die von ihnen diesen Lebenswandel erwarten, wollen sich jedoch nun nicht mehr an die Regeln halten. Die, die zu Hause immer so knausrig und sparsam waren, geben nun zuhauf das Geld für andere, „ehrlose“ Frauen aus.

Zunächst schwiegen die Frauen schamvoll und litten darunter, daß ihre Ehemänner immer weniger Zeit im Haus und immer mehr mit den fremden Frauen verbrachten. Doch dann setzten sie zum Protest an. Zunächst blockierten sie für einige Stunden den Grenzübergang nach Georgien, dann folgten Flugblattaktionen, in denen die Ausweisung der Prostituierten gefordert wurde. Im März vergangenen Jahres verhalfen die Frauen von Trabzon zum ersten Mal der islamistischen Refah-Partei zum Sieg bei den Gemeindewahlen. Von der strengeren Moral der Islamisten erhofften sie sich mehr Durchsetzungsvermögen gegen die Prostituierten als von den Sozialdemokraten, die bis dahin immer den Bürgermeister gestellt hatten.

Eine derer, die lautstark den Abzug der Prostituierten fordern, ist Müzeyen Abanoz. Sie arbeitet im Rathaus von Trabzon, wo ihr Mann frischgewählter, islamistischer Vizebürgermeister ist. Müzeyen ist jung, hübsch und energisch. Ihren Glauben bezeugt sie durch ein hellblaues Kopftuch, das nicht ein Haar freiläßt, und das lange, weite Gewand der Islamistinnen. Als erstes schickt sie den Gemeindepolizisten vor die Tür: Sie geniere sich, über dieses Thema vor einem Mann zu sprechen. Dann legt sie los. „Soviel ich weiß, ist Prostitution in allen Religionen verboten, das ist Sünde“, schimpft sie. „Es ist auch nicht gesund. Und wenn so eine Madame mit so was ein paar tausend Dollar verdient hat, haut sie ab. Und wo holt sie das her? Von dir und von mir. Auf der einen Seite gehts rein, auf der anderen raus. Ahmet macht Bankrott, die Russin wird reich, das Geld ist weg. Das ist doch nicht schön.“

Die Männer haben, sagt Müzeyen Abanoz, den Kopf verloren. Manche hätten ihren Ehefrauen die Goldarmreifen geklaut, um sie den Prostituierten zu geben. Andere hätten die Prostituierten mit nach Hause gebracht, in ihre Familie. Viele seien bankrott gegangen, wegen der Prostitution. Die Schuld dafür schiebt sie umstandslos den „Russinnen“ in die Schuhe. „Die müssen eine besondere sexuelle Ausbildung genossen haben“, schimpft sie. „Es heißt ja immer, die machen das besonders gut. Denn unsere Männer sind doch dieselben wie vor ein paar Jahren, die sind doch nicht plötzlich zu Tieren geworden.“

Um den Frauen von Trabzon beizustehen, ist inzwischen eine Vereinigung namens „Schutz der Familie“ gegründet worden. Yazgülü Kansiz, Krankenschwester und Gründerin der Organisation, fordert ein Zufluchtshaus für die Ehefrauen von Trabzon. „Diejenigen, die finanziell unabhängig sind, können sich scheiden lassen, wenn ihr Mann sich danebenbenimmt“, erklärt sie. „Aber die meisten sind vom Mann abhängig. Und der verletzt ihren Stolz. Diese Frauen sind zutiefst gedemütigt, sie fühlen sich wertlos. Und wo sollen sie hin?“

Wie weitreichend die Auswirkungen der Prostitution auf die Familien wirklich sind, ist schwer herauszufinden. Bauern seien aus ihren Dörfern gekommen und hätten verjubelt, was sie in einem Leben voller Arbeit verdient hätten, wird erzählt. „In jedem Viertel sind mehrere Familien dadurch zerstört worden“, räumt Osman Abanoz, islamistischer Vizebürgermeister der Stadt, ein. „Da hat einer seinen Besitz auf dem Dorf verkauft, ein anderer hat seine Frau hier zurückgelassen und ist zum Handeln nach Rußland gegangen und ewig nicht zurückgekommen. Oder ein Verkäufer ist zu Prostituierten gegangen und hat dort einen Großteil seines Verdiensts gelassen, und seine Familie kam zu kurz.“ Dennoch seien die Möglichkeiten der Gemeinde, dem Einhalt zu gebieten, beschränkt. Man habe Hygienekontrollen in den Hotels vorgenommen, und manche seien daraufhin geschlossen worden. Doch die Frauen auszuweisen, habe man keine rechtlichen Mittel, solange man sie nicht in flagranti ertappe.

Eine Grenze geht auf, eine Stadt macht Geschäfte, eine Gesellschaft geht in Stücke. Und das in ganz kurzer Zeit. Das wird sich schon einrenken, meint Ahmet Mollahmehmetoglu von der Handelskammer in Trabzon: „Überall, wo sich etwas entwickelt, gibt es auch soziale Neuerungen und Probleme. Es ist zwar nicht menschlich, daß sich Leute für Geld verkaufen, aber das gibt es überall. Und wenn zwei Völker, die sich 70 Jahre lang gegenseitig als Feinde angesehen haben, plötzlich eng miteinander zu tun haben, kann es Probleme geben, da kann man sich mißverstehen. Wichtig ist aber, in die Zukunft zu schauen.“ Wie diese allernächste Zukunft für die Frauen von Trabzon aussehen könnte, dafür hat er allerdings auch kein Rezept.

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