"Blavatzkys Kinder" - Teil 26 (Krimi)

Teil 26

„Als vierte Wurzelrasse folgten die Atlantier mit sieben Unterrassen. Darunter nicht nur der Cromagnon-Mensch und die Indianer Süd- und Mittelamerikas sowie Teile der Chinesen, sondern eben auch Juden. Darüber hinaus Basken, Mongolen und Eskimos und so weiter. Alle seien minderwertig gegenüber späteren höherrangigen Wurzelrassen.“

Zu Sabine gewandt fragte Renate: „Nicht rassistisch, nein?“ und ohne ihr die Chance für eine Antwort zu geben, redete sie weiter: „Auf Atlantis, der angeblich 9564 vor Christus versunkenen Heimat der Atlantier, bildete sich auch die fünfte Wurzelrasse. Ratet mal, wie die hieß? Arier! Zu deren Errungenschaften gehören zum Beispiel die Entwicklung des Ich-Bewußtseins, die Persönlichkeitsformung, die sogenannte ich-bewußte, vergöttlichte Erkenntnis und das Bewußtsein der Urkräfte. Diese angeblichen Arier haben im Zuge einer ,Höherentwicklung‘ fünf Unterrassen hervorgebracht, darunter die Indo-Arier: Griechen, Römer, Germanen, Kelten und Slawen. Die Juden bezeichnet Blavatsky als ,eine künstliche arische Rasse‘ und als ,abnormes und unnatürliches Bindeglied zwischen der vierten und fünften Wurzelrasse‘.

Viele Theosophen bezeichnen die New-Age-Bewegung als eine Art Aufdämmern der sechsten Wurzelrasse. Aber geschichtlich hat die Theosophie ihre extreme Interpretation in Deutschland gefunden. Steiner ist dabei eigentlich nur eine Witzfigur, der etwa die karmische Notwendigkeit des ,Hinsterbens‘ der Indianer rechtfertigte mit Sprüchen wie: ,Nicht etwa deshalb, weil es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben mußte, die sie zum Aussterben führten.‘ Vergeßt ihn. Mit Bezug auf die Geheimlehre wurde in München 1918 die Thule-Gesellschaft gegründet. Und in der fanden sich später maßgebliche Faschisten. Zum Beispiel Alfred Rosenberg.“

„Rosenberg?“ fragte Karo.

„Ein Oberideologe der Nazis. Hat mit dem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts das zweitwichtigste Nazi-Buch geschrieben, war Hitlers Beauftragter für Schulung und Erziehung und wurde als einer der Hauptkriegsverbrecher 1946 in Nürnberg verurteilt und hingerichtet“, antwortete Richard.

Renate referierte weiter. „In der Thule-Gesellschaft befand sich auch Julius Streicher, gleichfalls 1946 als Kriegsverbrecher vom internationalen Militärtribunal in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. Streicher war einer der widerlichsten Antisemiten, die das Dritte Reich kannte. Mit dem Stürmer, seiner Zeitung, hetzte er zum Mord an den Juden auf. Organisierte den ersten Judenboykott, war maßgeblich an den Nürnberger Rassegesetzen beteiligt und half, die totale Vernichtung der Juden in Europa vorzubereiten. Und noch so einiges andere. Ihr wolltet es mir ja neulich nicht glauben. Es gibt die Thule-Gesellschaft heute wieder, und der Oberchef vom Lebenshof, der Deger, ist Mitglied. Schulte wahrscheinlich auch.“

„Du phantasierst. Das glaube ich nicht“, schimpfte Sabine.

„Tja, war so nett da neulich im Lebenshof, nicht? Will man gar nicht glauben, daß so was Böses dahintersteht.“

Sabine ging der geduldigen Renate heute mehr auf die Nerven als je zuvor. „Wenn du bei dem Vortrag von Gertrud Eibner deinen Verstand eingeschaltet hättest und etwas weniger geil auf Nabelschau und Mystik wärst, hättest du es merken können. Eibners Gerede sollte hauptsächlich rechtfertigen, daß es sogenannte minderwertige und höherwertige Menschengruppen gibt.“

Inzwischen war Sabine stinksauer. Maja reichlich verwirrt, und Angie beschwerte sich wie immer, wenn sie nicht weiter wußte, über Renates und Richards Diskussionsstil.

Plötzlich explodierte Karo und schrie mit heller Stimme dazwischen: „Scheißstil! Was für ein Stil? Stil ist total egal. Ich will was wissen. Jetzt. Sofort. Hier und gleich. Kapiert?“

„Dein heißgeliebter C. G. Jung, Tommy“, sagte Renate, „würdigte Hitler 1939 als ,Medizinmann, Seher und Prophet‘, als ,wahren Führer‘, der mit magischer Macht ausgestattet sei. Und er sagte: Sofern die ,Eingebung‘ des Führers die Eroberung Europas bedeute, stehe eine ,extrem interessante Periode‘ bevor. Wahrscheinlich meinte er damit Auschwitz, was meinst du?“

„Quatsch. Jung hat sich nach dem Krieg vom Faschismus distanziert.“

„Stimmt nicht. Nur hat sich keiner seiner heutigen Fans der Tatsache gestellt, daß Jungs wissenschaftlicher Beitrag zum Faschismus darin bestand, die angeblichen ,Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie“ herauszuarbeiten.“

Tommy versuchte sich aus der Angriffslinie zurückzuziehen. „Stimmt schon. Aber danach hat er wirklich tolle Sachen geschrieben.“

Renate sah in die Runde. Sie war stinksauer. Sie war sicher nicht superpädagogisch vorgegangen. Aber es gab Grenzen. Angie schwieg. Maja auch. Tommy konnte ihr nicht in die Augen sehen.

Richard knurrte: „Für heute reicht's wohl.“

Renate packte ihre Tasche, erhob sich, zog ihren Mantel an, verabredete sich mit Richard zum Abendessen und sagte: „Tschüs, ich brauche frische Luft.“

Auf dem Weg zum Ausgang des Cafés wurde sie von einer Unbekannten angehalten.

„Ich heiße Miriam. Das ist Robert. Wir haben euch zugehört und waren ziemlich beeindruckt. Willst du dich zu uns setzen?“

„Nein, danke. Ich muß hier raus.“ Renate zögerte einen Moment. „Aber ihr könnt mitkommen. Ich muß mich bewegen, sonst flippe ich aus.“

„Ich will auch mit!“ Karo lief hinter ihnen her.

Fortsetzung folgt