Rußland erwache

Nicht nur heute, sondern bereits in der Sowjetzeit war der großrussische Chauvinismus wichtiger Bestandteil der Politik des Kreml  ■ Von Boris Schumatsky

Schauen Sie mal: sechzehn Seiten Schirinowski, eine Superware!“ Der Zeitungsverkäufer agitiert wie ein orientalischer Basarschreier. „Überzeugen Sie sich selbst, die Portraits von Wladimir Wolfowitsch auf jeder Seite, hier sogar mit einer Krawatte! Echt toller Artikel, nur viertausend Rubel.“ Am Metro-Eingang „Platz der Revolution“, nur wenige Dutzend Meter vom Kreml entfernt, sind auf den umgekippten Bananenkartons nationalistische und kommunistische Blätter ausgelegt: Schirinowskis Prawda, Sturmowik (Stürmer), Der Weg Lenins, Wie der Recke Ilja einen Jid besiegte. Ein Skinhead verkauft die Russische Ordnung der heimischen Nationalsozialisten. Die Übersetzungen ausländischer Theoretiker hat er auch, darunter „Mein Kampf“.

Die Kunden sind ziemlich wählerisch. Der kahlköpfige junge Mann im schwarzen Regenmantel hält nichts von Mussolini: „Ein Schwächling war der.“ Da sind sie mit dem Verkäufer einer Meinung. „Das hier zum Beispiel“, er zeigt auf eine Broschüre des NS-Theoretikers Alfred Rosenberg, „ist viel cooler.“

Nationalismus hat in Rußland Konjunktur. Fünfzig Jahre nach dem Sieg über den Nazismus schießen faschistische Gruppierungen und Blätter wie Pilze aus dem Boden. Nach Einschätzung des Moskauer Antifaschistischen Zentrums erscheinen in Rußland über 300 rechtsradikale, darunter 160 profaschistische Periodika. Im Januar dieses Jahres stand in St. Petersburg Wiktor Beswerchi vor Gericht, einer der führenden Köpfe der rechtsradikalen Szene. In seiner „Anthropologie“ schreibt Beswerchi: „Bereits im 19. Jahrhundert hatte die Evolutionstheorie den wirklichen Platz der Juden unter den Menschen entdeckt: menschlicher Abfall. Die jahrhundertealte Praxis hat die Überflüssigkeit der schwarzweißen Bastarde (Jidden, Zigeuner, Mulatten) bewiesen. Im Deutschland der 30er Jahre wußte man die Jidden genau zu identifizieren. Diese Erfahrung müssen wir ausführlich studieren.“

Das Petersburger Bezirksgericht konnte keine „Anstiftung zur nationalistischen und rassistischen Verhetzung“ feststellen und befand Beswerchi für unschuldig. Wie schon einmal, als er zum ersten Mal auf russisch „Mein Kampf“ herausgegeben hatte. Beswerchi verfolge, hieß es in der Urteilsbegründung, keine kriminellen, sondern rein kommerzielle Absichten.

Die Laufbahn des 65jährigen Dozenten des Marxismus-Leninismus war eng mit der Entwicklung des russischen Neofaschismus verbunden. Mitte der Siebziger schuf er die „Geheime Gesellschaft der Wolchwy“, der heidnischen Priester also. Seine Verfechter organisierten 1980 die ersten faschistischen Aufmärsche auf sowjetischem Boden. Die schwarzbehemdeten Nomenklaturasöhne randalierten neben den Synagogen in Moskau und Kiew.

In Moskau nahmen damals auch die Jugendgangs aus den Arbeiterbezirken an der Kundgebung teil. Ihr Kampfruf stammte aus der Kriegszeit: „Schlagt die Faschisten!“ Dann wurden die mit Schlagringen bewaffneten Angreifer aber selbst zusammengeschlagen – von den sowjetischen Ordnungshütern. Die Neonazis dagegen mußte die Miliz laufenlassen: zu einflußreich waren die Väter der rechtsradikalen Jugend.

Seit den siebziger Jahren verbreiteten sich in der KPdSU, dem Komsomol und dem KGB nationalsozialistische Stimmungen. Ihre einzig zugängliche theoretische Grundlage waren Werke von Hitler und Rosenberg, die vor 50 Jahren in den von Nazideutschland besetzten Gebieten auf russisch gedruckt worden waren.

Die Neofaschisten waren zur Sowjetzeit unbedeutend im Vergleich zur breiten Bewegung des Blut-und-Boden-Patriotismus. Die Intelligenzija – Ingenieure, Tierärzte, Schuldirektorinnen und die „Kulturschaffenden“ – entwickelte ein nationales Überlegenheitsgefühl. Die sowjetischen Dissidenten der achtziger Jahre galten im Westen pauschal als Demokraten. In Wirklichkeit waren unter ihnen die Fundamentalisten aller Schattierungen im Übergewicht.

Aus den scheinbar harmlosen Schwärmereien über die herrliche Vergangenheit des Vaterlandes, seine große Kultur und Literatur bildete sich eine chauvinistische Ideologie heran, wie etwa bei Solschenizyn. Viele Leute, die damals alte Kirchen restaurierten oder Ikonen sammelten, landeten in der Perestroika bei der nationalistischen Organisation „Pamjat“.

Die nationalistische sowjetische Intelligenzija setzte jedoch „nur“ die Tradition der Slawophilen und Literaten des 19. Jahrhunderts fort. Die „große“ russische Literatur hatte damals einen besonderen russischen Menschen mit seiner geheimnisvollen Seele entstehen lassen. Die Russische Idee sollte Europa von dem unchristlichen Pragmatismus und der sterilen Zivilisation befreien. „Für einen echten Russen“, schrieb 1880 Dostojewski, „sind Europa und das Schicksal des gesamten großen arischen Geschlechts genauso teuer wie Rußland selbst. Denn unsere Bestimmung ist weltumfassend. Diese wird aber nicht mit Waffen erkämpft werden. Brüderliche Liebe wird alle unsere Brüder umfassen und sie zur christlichen Weltharmonie führen.“

Paradoxerweise wurde Dostojewski zu Lebzeiten als Kosmopolit beschimpft. Dabei zählte er zum Beispiel die „Jidden“ nicht zu den arischen Brüdervölkern und rief zur Befreiung Konstantinopels von Moslems und ihren „jüdischen Verbündeten“ auf. Nach der Oktoberrevolution und dem Sieg des „Proletarischen Internationalismus“ lebte die Russische Idee im Exil fort. „Die ganze Geschichte der russischen Kriege war ein selbstloser Dienst im Namen Gottes, des Zaren und des Vaterlandes“, so erklärte der emigrierte Philosoph Iljin die „liebevolle Welteroberung“ Dostojewskis im Jahre 1948. Damals war Stalin gerade dabei, den Völkern Osteuropas diese brüderliche Liebe beizubringen.

Kurz nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ avancierte der russische Nationalismus zur Staatspolitik. Nur der Tod Stalins verhinderte eine Massendeportation der Juden. Seitdem blieb der großrussische Chauvinismus ein latenter Bestandteil der sowjetischen Politik. Die heutigen Nationalisten und Faschisten sind keine neue Erscheinung. Der einzige Unterschied zu ihren Vorfahren besteht darin, daß sich heutzutage die missionarische Russische Idee zu einer Wahnvorstellung entwickelt hat.

Der paranoide Größen- und Verfolgungswahn spricht aus dem vor kurzem erschienenen Buch „Steh auf Rußland!“. Rußland sei ein reiches Land, behauptet der anonyme Autor, weil der russischen Seele die edelsten geistigen Schätze innewohnen. Es habe bloß immer Pech gehabt, angefangen vom mongolischen Joch bis hin zur Diktatur der jüdischen Bolschewiken. Ständig müsse Rußland zudem gegen innere und äußere Feinde auftreten, die einen „geistigen Krieg“ gegen das friedliebende Volk führen. Eine furchtbare „kulturelle Waffe“ setzen sie ein. „Es werden Diskotheken und Kaugummi eingebürgert... Durch einen speziellen elektronischen Rhythmus wird das Nervensystem abgestumpft und die Seele zerstört. So wird das intellektuelle Potential der Nation ausgerottet.“

Die Invasion von Kaugummi und Videos, die in das friedliche Rußland Gewalt, Prostitution und Homosexualität gebracht hätten, sei aber nur ein Aspekt des „globalen Krieges“ gegen das russische Volk. Auch die anderen Übel, das harte Klima etwa, habe Rußland einzig und allein seinen Feinden zu verdanken. Die Shuttles der Nasa, mit einer „klimatischen Waffe“ an Bord, sollten bereits mehrere Naturkatastrophen und Klimaveränderungen in Rußland initiiert haben. Gegen diese Volksfeinde ist jedes Mittel recht. Denn ihr Endziel ist, Rußland auf eine ähnliche Weise zu besiedeln, wie einst die Europäer Nordamerika kolonisiert hatten: durch eine „massenhafte Skalpierung“ der Ureinwohner.

Eine solche Tragödie will Alexander Barkaschow verhindern, der Führer der größten paramilitärischen Organisation der russischen Rechtsextremisten. „Rußland hat einen Erzfeind“, schreibt er im „ABC des russischen Nationalisten“. „Das ist die internationale jüdische Oligarchie... Sie ist eine Art Darmschmarotzer in unserem Staatskörper. Um sie loszuwerden, muß man zu radikalsten Mitteln greifen.“ In der Sowjetunion bildete Barkaschow arabische Kommandos aus für den Kampf gegen Israel.

Jetzt kommandiert der Führer der „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE) eine Armee von – nach eigener Einschätzung – 70.000 Kämpfern. In Wirklichkeit zählt die RNE vielleicht 6.000 Mitglieder. Ihr ursprüngliches Ziel war, mit Gewalt die Macht zu ergreifen. Ihre Kampfbereitschaft haben Barkaschows Neonazis während des Putsches 1993 bewiesen. Neben dem Weißen Haus massakrierten sie mehrere Zivilisten. 1994 wurde Barkaschow in einem Zug mit den anderen Putschisten amnestiert. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wollen die Neonazis ihren eigenen Kandidaten aufstellen.

„Die RNE stellt zwar eine größere Gefahr für die Demokratie dar als der Mafia-Clan eines Moskauer Bezirks“, so Wladimir Pribylowski, Experte der Analytischen Gruppe „Panorama“. „Sie ist aber bedeutend weniger gefährlich als der Sicherheitsdienst des Präsidenten. Die unmittelbare Gefahr für die Demokratie sind nicht die Faschisten, sondern ein autoritäres Regime.“ Dieses stütze sich auf eine „einflußreiche antidemokratische Strömung, die Nationalpatrioten. Sie werden bei den kommenden Wahlen bis zu einem Drittel Stimmen bekommen. Allerdings sind unter rund 100 nationalpatriotischen Parteien und Gruppen nur etwa 10 bis 12 wirklich faschistische Gruppierungen. Die von Barkaschow ist die größte.“

Das Spektrum der patriotischen Großmachtideologie reicht von Kommunisten bis zu Monarchisten. In dem Gebäude der ehemaligen „Moskauer Adelsversammlung“ sitzen sie alle an einem Tisch: der pensionierte KGB-General Sterligow, Popen, Kosaken und Alexander Stilmark, Führer der „Schwarzen Hundertschaften“. Wassiljew von der „Pamjat“ ist auch dabei. Zu Zeiten Gorbatschows befürchteten viele Juden, daß er zu Pogromen aufrufen werde. Inzwischen jedoch wurde Wassiljew von den meisten seiner ehemaligen Kampfgenossen – sogar von Barkaschow – verlassen. Eine abgefallene Gruppierung hat sogar sein Hauptquartier überfallen. Die wenigen „russisch-orthodoxen Faschisten“ aus der „Pamjat“ werden jetzt nur noch von dem rechtsextremistischen Flügel der russischen Kirche unterstützt.

Die Stimmung in dieser Adelsversammlung ist alles andere als harmonisch. Die Monarchisten können sich in der Frage der Thronfolge nicht einigen. Eine Partei führt rassische Argumente ins Gefecht: Nur ihr Kandidat habe rein russisches Blut. Die anderen gehen auf ihre Gegner mit den Fäusten los – um zu beweisen, sie seien auch urwüchsige Russen. Nur mit Müh und Not können die Wachen die Ruhe wiederherstellen, die der Imperator Paul der Zweite und der Großfürst Nikolai Alexandrowitsch angefangen haben. Die Anführer der Kosaken gehen noch weiter und fangen am Buffet eine wilde Schießerei mit ihren Gaspistolen an. Auf dem Tisch bleiben halbleere Wodkaflaschen und nicht aufgegessene belegte Brote mit rotem Kaviar zurück.

Zwei einflußreiche Politiker sind auch dabei: Alexander Ruzkoi, Jelzins rebellischer Ex-Vize, heute Chef der Fraktion „Derschawa“ (Reich) in der Staatsduma; und der Vorsitzende der kommunistischen Fraktion Gennadi Sjuganow. Beide Genossen suchten die ideologische Grundlage für eine mögliche Allianz mit den Monarchisten. „Die Monarchie“, meint Alexander Ruzkoi, „ist Selbstherrschaft, sie garantiert die Größe Rußlands und der Nation.“ KP-Chef Sjuganow, der sich um ein demokratisches Image bemüht, erinnerte daran, daß die russischen Zaren gewählt wurden (was übrigens zum letzten Mal vor rund 400 Jahren passierte).

In diesem Spektakel fehlte wohl nur noch Wladimir Schirinowski. Aber, wie Pribylowski meinte, „die Partei von Schirinowski ist keine faschistische, nicht einmal nationalpatriotische, sondern lumpenpatriotische. Schirinowski ist ein konsequenter Populist. Wenn er sich einbildet, daß die Partei der Eskimos gute Chancen hat, wird er sich sofort für einen Eskimo erklären.“

Schirinowski verliert immer mehr an Einfluß. Denn ein anderer Politiker weiß die nationalpatriotischen Stimmungen viel erfolgreicher zu instrumentalisieren: Präsident Boris Jelzin. Schon als Moskauer Parteichef war er für die nationalistische Demagogie empfänglich. Damals hatte er eine Delegation der „Pamjat“ empfangen und danach gemeint: „Manche Ideen und Gedanken waren vernünftig.“

Der Duma-Abgeordnete und Fernsehjournalist Alexander Newsorow wurde nach Tschetschenien mit dem Auftrag geschickt, Jelzins Kriegspolitik zu propagieren. „Ich wollte schon immer dorthin, wo man tötet“, so Newsorow. Während im Hintergrund die Musik von Wagner erklingt, preist er die Militärs als „Hunde des Krieges“.

Die Rechtsradikalen stilisieren sich zu russischen Germanen. Blond, halbnackt, mit einer Kalaschnikow in der Hand, stellt der Maler Ilja Glasunow den neuen russischen Hoffnungsträger dar. „Gott mit uns“ steht auf seiner Koppelschnalle. Als Boris Jelzin das Bild „Rußland, erwache“ sah, meinte er nachdenklich: „Rußland... Es ist ja stark.“

Zweifelsohne identifizieren sich die meisten Russen heute nicht mit den militanten Nationalisten. Doch die Kriegspolitik des Kremls, die Instrumentalisierung des chauvinistischen Gedankenguts verleiht den rechtsextremistischen Splitterorganisationen immer größere Bedeutung. Jelzins Mannschaft zeigt die zunehmende Bereitschaft, sich zur Rechtfertigung eigener Fehler des nationalistischen Vokabulars zu bedienen. Nach der Blamage in Tschetschenien bemüht Verteidigungsminister Gratschow offen faschistoide Denkmuster: Selbststilisierung zum echten Mann und Krieger, Dämonisierung der angeblichen Feinde Rußlands, zu denen er auch Menschenrechtler Sergej Kowaljew zählt.

Nur ein erklärter Faschist wie Barkaschow kann noch weiter gehen: alle Kriegsgegner seien für ihn „Untermenschen“, genauso wie die Tschetschenen. „Wir betrachten uns als aktive Reserve des Verteidigungsministeriums“, versichert Barkaschow dem Kreml. Sein Parteiblatt Russische Ordnung darf er in der Druckerei des Moskauer Militärbezirks „Roter Krieger“ drucken.

Für die Reformverlierer und Sowjetnostalgiker ist die nationale Überlegenheit eine Kompensation der eigenen Unfähigkeit. In den Verschwörungstheorien finden sie eine fertige Erklärung für die heutige Misere. Gegen die erfolgreichen new russians führt man ein anderes Russenbild ins Gefecht. „Bald wird er kommen, der neue Russe“, begrüßt die Zeitung Attacke den russischen Siegfried. „Er nähert sich schon, in einen strahlenden Panzer gehüllt. Der heilige Aggressor, der unbesiegbare Riese der Nationalen Revolution, er kommt, um die moderne Welt zu verurteilen.“