"Blavatzkys Kinder" - Teil 27 (Krimi)

Teil 27

Diwnas sprach inzwischen einige Worte Deutsch. Sie hieß Dorothea. Ein scheußlicher Name, dachte Benjamin. Er bemühte sich, im Speisesaal neben Diwnas zu sitzen. Oft gelang es. Er mußte vorsichtig sein. Freundschaften waren nicht erwünscht. Er half ihr angeblich nur bei den Hausaufgaben und brachte ihr die Worte bei, die er auch erst hier gelernt hatte. Deutsche Worte. Er kannte keinen Menschen, der diese fremde Sprache freundlich klingen ließ.

Sie brachten Diwnas oft zum Arzt.

„Warum?“ fragte er beim Essen. Sie wußte es nicht. Ihre Hände zeigten ihm, daß Männer in weißen Mänteln sie von der Stirn bis zu den Zehenspitzen vermaßen. Das kannte Benjamin. Seinen Kopf hatte man dutzendmal vermessen, die Augenabstände, den Schädelumfang und die Gesichtslänge. Aber bei ihm war nicht so oft Blut abgenommen worden. Diwnas wurde auf Liegen gelegt und hinter komische Geräte gestellt. Röntgen nannten sie das. Benjamin machte sich Sorgen. So hatte es mit Michael auch angefangen. Der war endlos untersucht worden. Jetzt war Diwnas dran. Er sah sie an. Sie lächelte und stellte unter dem Tisch ihren Fuß sanft auf seinen. Raus hier! Raus aus dem furchtbaren Heim. Schnell. Er wollte nie wieder einen Freund verlieren. Nicht auch noch Diwnas!

Fluchtpläne. Je mehr sich Benjamin in sie verspann, desto disziplinierter hielt er sich an die grauenvollen Regeln: Nicht ins Bett pinkeln. Spielzeug nicht auf den Boden werfen. Scheitel ziehen und Haare kämmen. Finger schrubben und Fingernägel saubermachen. Bei Tisch kerzengerade sitzen. Alles aufessen, selbst wenn der Brei stank wie Jauche. Bei jeder Frage eines Erwachsenen sofort aufstehen, ganz gerade stehen und alles höflich beantworten. Sich für scheußliche Dinge bedanken. In der Klasse ordentlich schreiben. Keine Flecken ins Heft machen. Mehr schreiben und rechnen als aufgetragen. Benjamin biß die Zähne zusammen. Kein einziges Wort in jener fremden, „nichtarischen“ Sprache, deren Klänge manchmal durch seinen Kopf wehten.

Er verwarf acht Tage lang alle Pläne. Aus dem Kinderhaus würden sie nicht rauskommen. Vergitterte Türen und Fenster. Die Mauer war viel zu hoch. Keine Leiter, nichts, was sie benutzen konnten, um darüber zu klettern. Der Spielhof. Scheißspielhof. Voller Beton, eine Rutsche, eine Schaukel, eine Bank, ein Abfalleimer und der Hundezwinger. Nichts zu machen. Vom Hof gingen zwei Tore. Das eine führte neben der Schule in eine Art Schleuse, aus der ein zweites Tor wieder herausführte. Dahinter lag der Hof des Krankenhauses. Krank melden? Alle beide? Und wie sollten sie aus dem Krankenhaus wieder rauskommen?

Durch das Tor des Kinderhofs konnte Benjamin über den Weg in den Garten sehen, der zwischen den beiden Wohnhäusern lag. Es gab Bäume dort, ein kleines Rasenstück, Beete und einen Pavillon in der Mitte. Benjamin war dort schon einmal gewesen. Brave Kinder durften manchmal im Garten des Pflegepersonals Unkraut jäten.

Sie hatten es geschafft. Sie waren in den Garten gekommen. Unkraut jäten. Steine sammeln. Plötzlich geschah alles auf einmal. Ihre Aufpasserin wurde ans Telefon gerufen. Die andere Schwester half beim Ausladen eines neuen Kindertransportes. Der Pfleger, der einspringen sollte, hatte die Nachricht nicht rechtzeitig erhalten. Benjamin baute aus einem Gartenstuhl und einer Laubkarre eine Treppe. So gelangten sie auf das heruntergezogene Dach des kleineren Wohnhauses. Er zog Diwnas hinter sich hoch, und gemeinsam kletterten sie auf allen vieren bis zum First, dann auf der anderen Seite hinunter. Sie rutschen das Dach hinunter bis zur Regenrinne. Von da aus ließen sie sich fallen. Sie landeten unverletzt im Laub und liefen los. Vor ihnen lag nur noch der Wald. In den letzten Tagen hatte er lange darüber nachgedacht, in welche Richtung sie laufen sollten.

Aber Benjamin hatte sich für die falsche Richtung entschieden.

* * *

Der alte Mann beugte sich mit schwerem Rücken über seinen Schreibtisch. Wie sollte er es ihnen sagen? In seinem Papierkorb lagen viele zerknüllte Blätter. Er wischte einen Tintenfleck vom Mittelfinger und begann noch einmal.

„Liebe Miriam, lieber Robert“, schrieb er, „ich habe eine sehr traurige Nachricht für euch. Eure Freundin Soliza lebt nicht mehr. Es gab ein Weinfest in Eger. Skinheads haben die Leute überfallen. Nachdem alles vorbei war, wurde sie gefunden. Sie lag auf der Straße und lebte noch. Im Krankenwagen ist sie gestorben. Sie hatte einen Riß im Kopf. Die alte Frau läßt euch grüßen. Wenn ihr die Kinder findet, möchte sie es unbedingt wissen. Sie hat Kontakt zu Ana, der Verwandten von Soliza, aufgenommen. Soliza hat immer gut von euch gesprochen. Ich bin sehr traurig. Was ist das für eine Welt? Euer Ion Petrescu.“

Er stand auf und holte einen Briefumschlag aus der Kommode. Er faltete den Brief, schob ihn in den Umschlag, leckte die Lasche ab, klebte eine Briefmarke auf und machte sich auf den Weg zum nächsten Briefkasten.

* * *

Miriam und Robert packten belegte Brote ein, gossen Zitronentee in eine Thermosflasche und stiegen in Max' Auto, einen blauen, von Erde und Futterresten verdreckten Kombi.

Sie näherten sich dem Lebenshof rund eine Dreiviertelstunde später. Etwa zwei Kilometer vor dem Schloß befand sich ein hohes schmiedeeisernes Tod, an dem zwei Wachen fragten, was sie wünschten.

Fortsetzung folgt