Dickens-Typen in Gotham City

■ Die Stadt der verlorenen Kinder - ein Low-fiction der französischen Design-Filmer Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro

Wenn die Franzosen etwas anders machen, dann aber auch richtig. Das Bier hat Erdbeer- oder Kirschgeschmack, die Fritten werden im Baguette serviert, und auch Filme sind dort meist fremdartig gestrickt. In „Delicatessen“, dem preisgekrönten Debüt von Jean- Pierre Jeunet und Marc Caro, wurde aus dem recht barschen Umgang, den Menschen im Splatter-Genre miteinander pflegen, ein freundliches Schlachtfest, bei dem sich eine illustre Hausgemeinschaft in der Not der Nachkriegszeit gegenseitig zu Wurst verarbeitete.

Zwischendrin durfte ein arbeitsloser Clown mit Namen Louison das ausgefranste Gebäude reparieren und dabei eraserhead-artigen Träumereien nachhängen, während die kurzsichtige Tochter des Fleischermeisters aus dem Erdgeschoß den armen Tropf einfach bloß liebhaben wollte. Und im Keller züchtete ein Herrn Potin Schnecken und Frösche, um nicht auf Menschenfleisch angewiesen zu sein. Was wie ein magrittesches Tableau des Mondo- und Kannibalenfilms aussah, wiederholt sich in „Die Stadt der verlorenen Kinder“ als melancholischer Fantasy-Surrealismus. Kein Gedanke bleibt auf der Stelle, alle Bilder tanzen vorbei, als würden sie an unsichtbaren Fäden die Leinwand entlanggeführt.

Wieder geht es um Träume, aus denen man nicht fliehen kann. Schon die Freuden der Jugend sind von Monstern verstellt. Den Kindern begegnen geklonte Weihnachtsmänner im Schlaf, die gierig ihr Spielzeug begrabbeln. Tagsüber dann werden die Steppkes von Kahlköpfen in Lederkutten auf eine Art Bohrinsel verschleppt, wo sie für einen fehlkonstruiert dahinalternden Replikanten namens Krank als Studienmaterial dienen. Das greisenhafte Kunstgeschöpf will an ihren Träumen die menschliche Psyche erforschen, an der es ihm mangelt. Doch was auch immer er den Hirnströmen der Kindheit an Alp abzapft und in seinen eigenen Schädel übertragen läßt, selber empfinden kann er die Bilder nicht. Sie bleiben innerlich und der Maschine unzugänglich – soweit der französische Beitrag zum Thema Virtual reality.

Auf dem Festland scheint man das Verschwinden der Kinder derweil kaum zu bemerken. Die Stadt ist auch nur eine in matschiges Braun getauchte Maschine, in der sich allerlei versponnene Dickens- Typen aus dem 19. Jahrhundert mit der stumpfen Funktionalität einer trüben High-Tech-Zukunft abplagen müssen. Gotham City als brechtsches Armenhaus: Siamesische Zwillingsjungfern schicken Kinderbanden auf Diebeszug, ein schlechter Mensch und Mörder quält seinen Dobermann; ein drogensüchtiger Ex-Zirkusdirektor züchtet Kampfflöhe, die Nervengift verspritzen, und die besagten Ledertruppen tyrannisieren die Bevölkerung. Die Häuser sind hoch und häßlich, das Wasser ist mit wegelagernden Seetauchern verseucht. Nur in der Hafenbar finden die Gestrauchelten Halt und dürfen ihren Kummer an der neumodischen Welt in der Oberweite einer rotblonden Kellnerin begraben. Dazu klimpert dann traurig ein Schifferklavier, bis alles sturzbetrunken zu Boden liegt.

Jeunet und Caro scheinen den frankophilen Seemannskitsch der dreißiger und vierziger Jahre mehr zu lieben als das postmodern an „Blade Runner“ und dem japanischen Techno-Comic „Gunhead“ orientierte Science-fiction- Gerüst der Story. Während andernorts in den Studios durch die Animation jedes Phantasma dem Realen einverleibt wird, bleiben die beiden Franzosen mit ihren Computertricks in der Tradition von vorkinematographischer Jahrmarktszauberei des Fin de siècle. Sprechende Gehirne schwimmen in viktorianischen Vitrinen, das Frankenstein-Labor erinnert statt an neue Medien an freudsche Apparaturen; für die Botschaften von Geistern wird grüner Nebel benutzt, und die Latexkostüme hat nicht H. R. Giger, sondern Jean- Paul Gaultier entworfen.

Immer wieder wird noch das Dröhnen der futuristischen Panzerwagen von maunzenden Katzen übertönt, die sich rollig in den Hinterhöfen balgen. Und die grauen, abgerissenen Kinder blicken selbst der höchsten Gefahr so schmollmündig entgegen, als hätte Truffaut sie in diese endzeitliche Apokalypse geschickt. Die neunjährige Miette (Judith Vittet), ein Kinderstar vom Kaliber einer Charlotte Gainsbourg, wird geschlagen, fast zu Tode gewürgt und wie ein Hamsterjunges im Hafenbecken ertränkt, um gleich in der nächsten Szene wieder frech mit den Augen zu rollen und die Lippen zu spitzen.

Zwischen ihr und einem zurückgebliebenen Kraftathleten namens One entwickelt sich nebenbei recht schweigsam eine subtile Liebesgeschichte, die ebenso hoffnungslos vorbeizieht wie das unerfüllte Glück in Delicatessen. Er hat als letzten Halt den kleinen Bruder an die Kinderhändler verloren, sie sucht die erste Nähe eines einfühlsamen Freundes. Wortlos darf der depressive Schrat an ihrem Rücken kuscheln. Mal reitet sie auf seinen Schultern triumphierend Huckepack, mal massiert er zärtlich ihre Füße. Der Film beobachtet diese allmähliche Annäherung mit einer sonst eher dem Märchen eigentümlichen Naivität und Neugierde, die über jeden Mißbrauch erhaben ist – so oder ähnlich sesamstraßensanft könnte es sich möglicherweise in Michael Jacksons Hollywood-Schlößchen zugetragen haben. Auch wenn die Blicke, in die sich die beiden mit der Zeit verflechten, eindringlicher und sehnsüchtiger ausfallen als in manchen schonungslosen Beziehungsdramen. Am Ende paßt dies zugleich ungelenke und doch wie im Schwebezustand dahinströmende Begehren zu jener immer bloß einen Sprung entfernten Welt des Traums, in der „Die Stadt der verlorenen Kinder“ angesiedelt ist. Man wacht erst, wenn es vorbei ist, wieder richtig auf. Harald Fricke

„Die Stadt der verlorenen Kinder“. Regie: Jean-Pierre Jeunet; künstlerische Gestaltung: Marc Caro. Mit Ron Perlman, Judith Vittet, Dominique Pinon. Frankreich 1995, 112 Min.