"Chance für Reformen"

■ Grüner Abgeordneter Cem Özdemir hält die Kurdenpolitik der türkischen Regierung für gescheitert - Stimmungsumschwung ist offenkundig

taz: Herr Özdemir, Sie waren in der Türkei. Wie sind die Lebensbedingungen der Menschen in den kurdischen Provinzen?

Cem Özdemir: Nachdem zwei Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos von der PKK ermordet worden sind, herrscht dort Krieg. Die Sondereinsatzkommandos haben begonnen die Bevölkerung kollektiv zu bestrafen. In die kurdische Provinz Tunçeli kommt man nicht ohne weiteres. Auch ich konnte nicht einreisen. Aber nach Berichten in allen türkischen Tageszeitungen gibt es dort ein Nahrungsmittelembargo. Zwei Drittel der Dörfer wurden entvölkert. Wenn das, was zum Beispiel in der Zeitung Hürriyet steht, nur zur Hälfte zutrifft, herrscht dort Krieg gegen die Bevölkerung.

Wie bedeutend ist die jüngst veröffentlichte Studie des Türkischen Handels- und Börsenverbands?

Das ist zum erstenmal der Versuch, die Leute vor Ort zu befragen statt ständig nur über sie zu reden. Die Autoren stehen wirklich nicht im Verdacht, mit der PKK zu sympathisieren, vielmehr steht der Vorsitzende des Verbands, Yalim Erez, Ministerpräsidentin Çiller nahe. Die Ergebnisse sind ein kleines politisches Erdbeben.

Wie hat die türkische Öffentlichkeit auf die Studie reagiert?

Aus den Reaktionen in der Presse kann man schließen, daß durch diese Studie die bisherige Kurdenpolitik deutlich in Frage gestellt wird. Überall wird darüber diskutiert, ob diese Politik so weiterbetrieben werden kann.

Ist ein Kurswechsel möglich?

Man weiß nie, wie Ministerpräsidentin Çiller reagiert. Aber es ist nicht auszuschließen, daß sie in der Studie eine Chance sieht, ihre Politik zu ändern. Viel hängt jetzt von der Reaktion der Öffentlichkeit ab. Außerdem sind extrem konservative Kräfte und Teile des Militärs sicher nicht bereit, ohne Widerstand ihre bisherige Politik aufzugeben.

Gibt es Stimmen, die öffentlich für eine andere Politik plädieren?

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß die bisherige Politik der türkischen Regierung gescheitert ist. Die Mehrzahl der Kommentatoren spricht sich für Reformen aus. Selbst der Chefredakteur der konservativen Zeitung Hürriyet, Ertugrul Özkök, schlug vor: Die Assimilation ist gescheitert, vielleicht sollten wir es jetzt mit Integration probieren. Daß das jemand sagt, der als sehr einflußreich gilt, ist kein Zufall.

In einem bisher einmaligen Friedensaufruf fordern prominente Unterzeichner eine dreimonatige Waffenruhe, um eine politische Lösung voranzutreiben.

Ja, diesen Aufruf unterzeichnete eine Koalition, wie es sie bisher in der Türkei noch nicht gab: von konservativen islamischen Intellektuellen, wie Ismail Nacar, über den Autor der Studie, Dogu Ergil, bis hin zu liberalen Intellektuellen wie Yașar Kemal.

Welche Anzeichen gibt es darüber hinaus für einen Meinungsumschwung?

Erstmals hat sich die Witwe eines bei Kämpfen mit der PKK getöteten hochrangigen Offiziers öffentlich gegen eine feierliche Bestattung ihres Mannes ausgesprochen. Tomris Özden sagte in zwei Tageszeitungen des auflagenstarken Sabah-Konzerns: „Ich möchte keine feierliche Bestattung, die nur der Zurschaustellung dient. Mein Mann glaubte nicht daran, daß dieser Konflikt mit Waffen beigelegt werden kann. Für mich starb er nicht den Heldentod. Nur wenn jemand im Krieg fällt, wird er zum Helden. Mein Mann ist Opfer einer schmutzigen Politik geworden.“ Damit ist erstmals dokumentiert, daß die Witwen, die bisher immer als Kronzeugen für die Weiterführung des Krieges galten, diesen Krieg ablehnen. Interview: Karin Nink