Chance für Frieden in Kurdistan

■ Türkische Intellektuelle und Industrielle fordern Waffenstillstand. Bündnisgrüner Özdemir: Historische Gelegenheit

Bonn (taz) – In der Türkei scheint eine Änderung der Kurdenpolitik der Regierung möglich. In einem bisher einmaligen Friedensaufruf setzen sich Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft sowie Intellektuelle aus den unterschiedlichsten politischen Lagern für eine dreimonatige Waffenruhe ein. Sie soll das bisher in der Türkei Unmögliche möglich machen: eine politische Lösung des Kurdenkonflikts. Dies erklärte gestern der von einem Türkeibesuch zurückgekehrte bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir in Bonn. Nach einer Studie des Türkischen Handels- und Börsenverbandes (TOBB) werde überall über eine Kurskorrektur der Regierungspolitik diskutiert, sagte Özdemir. Der Auftrag für diese Studie soll nach Informationen aus der Türkei von einem engen Gefolgsmann der Ministerpräsidentin in Auftrag gegeben worden sein. Özdemir zur taz: „Ich denke, Çiller muß den Impuls aufnehmen.“

Die Ergebnisse der Studie bezeichnete er als ein „kleines politisches Erdbeben“. Es sei deutlich geworden, daß die Mehrzahl der Kurden kein eigenes Kurdistan möchten, sondern friedlich mit den Türken zusammenleben wollen. Allerdings forderten sie kulturelle Eigenständigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und vor allem eine Änderung der Politik des türkischen Staates. Nach der Studie seien von der Regierung zum Kampf gegen die PKK eingesetzte Sondereinsatzkommandos und Dorfwächter massiv in illegale Geschäfte verwickelt. „Auch das zeigt, daß der Staat, der angetreten ist, Terrorismus zu bekämpfen, selber Terrorismus betreibt.“ Die Jugend werde durch die aggressive Politik des Staates in die Arme der PKK getrieben, fürchtet der Abgeordnete.

Daß in großen Teilen der Bevölkerung ein Umdenken eingesetzt hat, sieht Özdemir auch durch zahlreiche Zeitungskommentare belegt. Äußerst bemerkenswert sei auch, daß die Witwe eines in den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der PKK getöteten hochrangigen Offiziers sich öffentlich in zwei großen Tageszeitungen vom Krieg gegen die Kurden distanziert habe. Inwieweit allerdings Çillers Regierung tatsächlich zu einer konsequenten Kurskorrektur bereit ist, wagte der Abgeordnete nicht vorherzusagen: „Sie hat jetzt die Gelegenheit, die historische Chance zum Neubeginn zu nutzen. Ob sie es tut, kann ich nicht prognostizieren.“ Das Verhalten der Regierung hänge nun im wesentlichen von der Reaktion der türkischen Öffentlichkeit ab.

Um die zu mobilisieren, haben der Mitautor des TOBB-Berichts, Dogu Ergil, und der konservative islamische Intellektuelle Ismail Nacar den Friedensaufruf gestartet, den weitere 100 Intellektuelle und Vertreter aus Politik und Wirtschaft unterzeichnen werden. Danach sollen die Listen in der Bevölkerung kursieren. Özdemir forderte, den Friedensaufruf von Deutschland und anderen europäischen Ländern aus zu unterstützen. „Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um die zivilen Kräfte in der Türkei massiv zu fördern.“ Bisher sei das Feld zu sehr radikalen Gruppen überlassen worden. Nun sei es an der Zeit, die „schweigende Mehrheit, die weder von der PKK noch von den türkischen Nationalisten repräsentiert wird“, zusammenzubringen. Karin Nink Seite 4