Trucker der plattdeutschen Prärie

■ Auf dem Zick-Zack-Kurs steuert Ingo Sax zum Erfolg: Sonderschule, Fernfahrer und erfolgreicher Autor des niederdeutschen Theaters/ „In platt habe ich immer gestottert ...“

„Versuchen Sie das doch mal selbst. Man muß ein Wort wie ,berufsspezifisch' nur mal laut aussprechen. Das geht gar nicht. Sie spucken entweder die Zuschauer naß oder brechen sich die Zunge. Also gehört ,berufsspezifisch' gestrichen. Bei mir jedenfalls kommt sowas nicht auf die Bühne.“ Dem Mann glaubt man auf's Wort. Ingo Sax ist einer der erfolgreichsten niederdeutschen Autoren und über die Maßen sprachbewußt. Daß er aber den Dialoge seiner Bühnenfiguren nachschmeckt, als könnte ihr Haltbarkeitsdatum längst überschritten sein, hat seinen Grund in der eigenen Biographie. Für Ingo Sax haben Worte eine lebensnotwendiges Bedeutung, die weit über philologische Liebhaberei hinausgeht. Schließlich war dem Autor niederdeutscher Stücke lange der sprachliche Zugang zur Welt verschlossen.

„Ich bin wohl der einzige plattdeutsche Autor, der nicht Plattdeutsch sprechen kann“, analysiert Ingo Sax heute in wohl artikulierten Worten die Paradoxie seines Lebens. „In Platt habe ich immer gestottert. Das Hochdeutsche spreche ich jetzt zwar flüssig, aber da ich auf platt denke, bin ich im Grunde immer am Übersetzen.“ Auch wenn der Theaterautor mittlerweile das Stottern bewältigt hat, die Gründe für die Sprachstörung sind nicht mehr zu beseitigen. Ingo Sax' Vorsprung vor anderen Stotteren: Er weiß nach langer Analyse um die Ursachen.

1940 geboren, erlebte er das fast normale Drama der Zivilbevölkerung in den letzten Kriegsjahren: Evakuierung, Flucht in überfüllten Zügen und Tieffliegerangriffe, bei denen man sich in den Graben duckte. Aber während die Erwachsenen von den damaligen Erlebnissen noch heute mit bewegter Stimmen sprechen, lernte der Zweijährige dies gar nicht erst. Statt wie andere Kinder erst „Mama“ und dann wahlweise „haben“ oder „Auto“ zu artikulieren, stotterte er so hartnäckig, daß ihn keiner verstand. „Pure Angst. Alles was du sagst, kann falsch sein und direkt zum Erschießen führen – das hatte ich im Unterbewußten abgespeichert.“

Sonderschule mit Sprachheilerziehung, Schlosserlehre und Lkw–Fahrer hießen die Stationen des Außenseiters. Eine klassische Karriere für jemanden, der mangels Sprachvermögen nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. „Ohne vernünftig sprechen zu können, sind anspruchsvolle Berufe einfach nicht zugänglich“, äußert Sax noch heute sein Mitgefühl für die Leidensgenossen von damals. „Das schleppst du rum wie einen Buckel.“

Geändert hat sich die sprachlose Situation für das hochbegabte Kind erst viel später. Zwar schickte ihn eine zufällig auftauchende Untersuchungskommission direkt von der Sonderschule auf ein Elitegymnasium, als sich bei einem nonverbalen Test ein IQ über 150 bei dem Zwölfjährigen herausstellte. „Für Idiosynkrasie hatte ich einfach eine bessere Definition als der Brockhaus parat“. Aber das Stottern blieb. An ein Studium war gar nicht zu denken. Der einzige Ausweg: Im Beruf die Worte meiden, was Handwerkliches lernen. Eine Schlosserlehre wird absoviert und später, als die Sehnsucht nach einer Welt jenseits der Enge des Hamburger Arbeitermilieus zunimmt, steigt Ingo Sax vom Amboß um auf den Bock, wird Fernfahrer. „Aus Opas vierbändigen Lexikon kannte ich die meisten Länder ja schon, jetzt wollte ich sie sehen.“

Bei der Rückfahrt nach Deutschland lädt er einen grauhaarigen Tramper ein, der sich als Analytiker herausstellt. „Wir fuhren die Strecke Avignon/ Hamburg. Nach zwei Tagen waren wir uns einig. Ich würde eine Analyse machen und endlich herausfinden, warum die Sprache stockt und die Muskeln sich beim Sprechen jedesmal verkrampfen.“ Die Wende im Leben des Ingo Sax „hört sich ein bißchen nach Hedwig Courths-Mahler an“. Das Resultat allerdings: drei Jahre harte Arbeit, ein Abstieg in die „Untiefen von Haß, Schuld und Angst.“ Der Gewinn: „Ich konnte endlich mit Mitte Zwanzig anfangen, zum zweiten Mal das Sprechen zu lernen“. Bei einem Schauspieler. Der Hamburger Joseph Offenbach bringt seinem Schüler weit mehr bei als die flüssige Artikulation der Sprache. „Er war der erste, der mir sagte, daß die Worte auch alle unterschiedlich sind, daß man mit ihnen spielen kann, sie wägen. Das hatte ich vorher gar nicht gewußt.“

Von dieser Erfahrung zehrt Ingo Sax noch heute, wenn er des Nachts das Arbeitsergebnis des Tages laut vor sich hinspricht. Und Wörter wie ,berufsspezifisch' gnadenlos eleminiert.

Kein Wunder also, daß Ingo Sax keine Gedichte für die stille Lektüre schreibt, sondern Dialoge, die auf der Bühne laut gesprochen werden. An zwölf Theatern haben Schauspieler seine Worte inzwischen Abend für Abend im Mund geführt, seinen Texte gesprochen. Warum aber hat er sich ausgerechnet das plattdeutsche Theater ausgesucht?

„Es gibt kein plattdeutsches Theater. Es gibt nur ein dramatisches Sujet, und das ist ausschlaggebend.“ Ihn interessieren Themen, die im hochdeutschen Theater kaum vorkommen, sich aber für die moderne Form des Volkstheaters eignen. Heiner Müller, das sei so ein Fall. „Der interessiert sich nur für den Menschen in Ausnahmesituationen, historische Figuren, die vor großen Entscheidungen stehen. Das ist Elitetheater. Ich will wissen, was der Nachbar von nebenan denkt.“

Beispielhaft aus der Produktion des Dramatikers, der auch Auf-tragsproduktionen des Ohnsorgtheaters nicht ablehnt, sein Stück aus der Arbeitswelt. „Wat steiht, köst Geld“ hat den hartnäckigen Kampf einer Frau um die Spedition ihres Mannes zum Thema. Die Übersetzung ins Englische bringt es auf den Punkt: 'Fair play doesn't pay', heißt es da. Sax hat seine Lektion als Trucker gelernt, und die legt er jetzt der weiblichen Hauptfigur in den Mund. „Die Frauen in dieser Schicht müssen unglaublich kämpfen. Das erste, was diese Frau lernt, ist Mißtrauen den Männern gegenüber.“ Ingo Sax neigt offensichtlich nicht zu Sozialromantik und verläßt sich im Theater weder auf das Gegebene noch auf Klischees.

Zur Zeit hat er ein Stück über Störtebeker in Arbeit. Was ihn interessiert, könnte die Liebhaber des niederdeutschen Theaters durchaus verstören. „Die Idee der Anarchie ist die zentrale Frage. Warum blieb der Meinhof nichts übrig als aufzugeben?“

Mittlerweile sei das niederdeutsche Theater reif für eine Erneuerung. Überall in den norddeutschen Landen kennt er Mitkämpfer, die sich nicht mit der bequemen Zweitklassigkeit dieser Bühnen zufrieden geben. „Wir müssen um den Erhalt dieser Sprache kämpfen, in Wales riskieren sie jedesmal eine Anzeige, wenn sie das „D“ für Anfänger auf walisisch auf den Wagen kleben statt des englischen „L“ für Learner. Wir sind davon noch weit entfernt.“

Allerdings kommt zur Zeit Bewegung in die plattdeutsche Szene zwischen Speeldeel und Ohnsorg-Theater. Mit der Aufnahme des Niederdeutschen in die Charta der Minderheitensprachen werden auch die Theaterautoren ermuntert, gegenwärtige Themen aufzugreifen und nicht den 100sten Volksschwank zu schreiben. Da dient Ingo Sax besonders für die jüngeren Autoren durch aus als Vorbild, ganz berufsspezifisch.

Susanne Raubold