Befund: stinkefingerunfähig

■ Ein Beleidigungsprozeß vor dem Amtsgericht und wie er verläppert

„Stinkefinger – das kenne ich überhaupt nicht.“ Günther K. (56) steht vor Gericht und ist ziemlich erregt. Da ist er wegen etwas angeklagt, wovon er im Leben noch nie gehört hat. Den „Stinkefinger“ soll er gezeigt haben, effenbergmäßig, einer Frau auch noch. Nie im Leben.

Tatort Edeka, Arsterdamm, im November letzten Jahres. Martina H. (31) will, mit der Tochter im Kinderwagen voran, gerade die Ausfahrt vom Großmarkt-Parkplatz überqueren, als ein Auto „zügig“ auf sie zukommt, erzählt sie vor dem Bremer Amtsgericht. Erst einen halben Meter vor ihr sei der Wagen zum stehen gekommen. „Ich bin dann weitergegangen und habe mich nochmal umgedreht, weil der Mann hupte. Ich dachte er entschuldigt sich, aber dann hat er mir den Stinkefinger gezeigt“, sagt Martina H. Grund genug für eine Anzeige, meint die Erzieherin.

Der Beschuldigte, Günther K., kann es nicht fassen. Die Geschichte war schon so, wie die Frau geschildert hat, aber eben doch ganz anders. Er habe am besagten Tag doch nur mit seinem Auto den Parkplatz vom Großmarkt in aller Ruhe verlassen wollen und sei dabei von Frau H. an der Weiterfahrt gehindert worden. „Sie war ein bißchen verträumt und hat mich gar nicht gesehen“, meint der Angeklagte. Hinter ihm habe mittlerweile eine Schlange von Autos gestanden und einige hätten gehupt. „Ich habe mit der Hand gewunken, damit sie weiter gehen sollte. Das war alles,“ sagt Günther K.

Nur gewunken oder eine Beleidigung, da steht Aussage gegen Aussage. Doch Güther K. hat noch ein ziemlich entscheidendes Argument in petto: „Ich kann ihr gar nicht den Stinkefinger gezeigt haben, weil ich meinen rechten Arm nur zur Hälfte heben kann,“ behauptet er, knöpft dabei sein Hemd auf und schiebt seine rechte Schulter vor. Günther K. hatte vor Jahren eine Schultergelenksprengung. Seine Schulter ist seitdem fast steif. Zu allem Überfluß ist der Mann schwer zuckerkrank und immer wieder von Schüben der Multiple Sklerose-Krankheit geplagt. Die Finger seiner rechten Hand sind verkrüppelt. Daumen, Zeige- und Mittelfinger recken sich unbeweglich in die Luft, die beiden übrigen sind zur Unkenntlichkeit verkrümmt. Befund: stinkefingerunfähig. Schon möglich, daß Martina H. seine halb erhobene rechte Hand damals als ausgestreckten Mittelfinger mißgedeutet hat. Ob er denn nicht „mit der linken Hand gewunken haben könnte, denn die ist ja offenbar gesund“, fragt der Richter mit lauter Stimme, denn Günther K. ist auf dem rechten Ohr fast taub. „Nicht immer“, erwidert der. Die Diabetes würde seine Finger immer wieder anschwellen lassen.

Der Mann ist geplagt. Zu 90 Prozent schwerbehindert ist Günther K. seit 1988 erwerbsunfähiger Rentner. „Ich weiß nicht, warum ich so gestraft worden bin, und jetzt auch noch das,“ klagt er.

Rechte Hand – linke Hand, ein Angeklagter, der einem ständig ins Wort fällt: Den Richter beginnt der Vorgang erkennbar zu nerven. „Welche Hand ist es denn nun gewesen“, will er von Martina H. wissen? „Ich kann es nicht mehr so genau sagen, aber ich glaube es war die rechte“, antwortet sie. Günther K. darf zur Demonstration seine kranke Hand heben. „Ich hatte das Gefühl es war der Stinkefinger. Ich habe ihn gesehen, aber ich bin mir nicht mehr sicher von welcher Hand,“ beteuert Martina H. beim Anblick der verkrüppelten Finger. Je länger die Verhandlung dauert, desto unklarer wird, was wirklich passiert ist. Aufklärung zwecklos. Martina H. hatte damals der Polizei zu Protokoll gegeben hatte, es sei die rechte Hand gewesen. Aber wenn es die Rechte von Günther K. war, dann kann er keinen Stinkefinger gemacht haben, und wenn es die linke gewesen sein sollte... Das Verfahren wurde ohne Auflagen eingestellt.

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