Der Anarchist vom Dienst

Mit fester Stimme und klarem Blick agitiert der Bürgermeister eines andalusischen Dorfes gegen die Verhältnisse – anachronistisch wie diese  ■ Aus Marinaleda Reiner Wandler

Einmal mehr steht er vor Gericht: Juan Manuel Sánchez Gordillo, Vorsitzender der 1974 im Anti-Franco-Widerstand entstandenen Landarbeitergewerkschaft „Sindicado de Obreros del Campo“ (SOC), Bürgermeister des andalusischen Dorfes Marinaleda und Abgeordneter der „Vereinigten Linken“ (IU) im Regionalparlament in Sevilla. Zusammen mit 1.500 Tagelöhnern hatte er letzten Sommer Spaniens Wahrzeichen der Moderne, den Hochgeschwindigkeitszug von Sevilla nach Madrid blockiert. Wegen „Nötigung“ will ihn das Gericht zur Verantwortung ziehen. Mit Richter Plácido Fernández, der in Korruptionsfällen immer wieder durch Freisprüche auf sich aufmerksam machte, ist dieses Mal nicht zu spaßen. Ende März verhängte er 24 Stunden Beugehaft wegen Aussageverweigerung gegen den 40jährigen Sánchez Gordillo.

„Das Gefängnis wird weder über die Utopie noch über die Freiheit siegen. Sie werden den Gang der Geschichte nicht damit aufhalten, daß sie uns mit Haft bedrohen“, ruft er seinen jubelnden Anhängern zu. Mit zerzaustem Vollbart und nach hinten gekämmtem Haar steht er da. Jeans, schlichte Sandalen und eines der gestreiften, weit aufgeknöpften Baumwollhemden – ob im Dorf, in seiner Amtsstube oder im Regionalparlament, die Kleiderordnung ist immer die gleiche.

„Mit solchen Aktionen verteidigen wir uns gegen die Gewalt und die Ungerechtigkeit. Dazu ist es unvermeidlich, die Legalität zu sprengen. Diese Legalität deckte einst die Sklaverei und deckt heute die Tagelöhnerarbeit“, verteidigt er sich laut. Eigentlich ist er Grundschullehrer für Sprache und Literatur – und auch wenn er nie als solcher gearbeitet hat, ist der belehrende Ton geblieben. Der sonst eher schüchterne und wortkarge „Juanma“, wie ihn die Seinen liebevoll nennen, verwandelt sich einmal mehr in den gewandten Agitator im Stile der 30er Jahre. Geballte Faust und fester Blick gehören mit zum Repertoire, das die heimische Presse vom „bärtigen Propheten“ bis zum „als Kropotkin wiederauferstandenen Dorf- Chomeini“ schreiben läßt.

Er ist längst zur Legende gewordene – und wirkt so anachronistisch wie die Zustände, gegen die er ankämpft. Auf dem Land in Andalusien, das bis heute fest in den Händen der Großgrundbesitzer, der señoritos ist, verdingen sich 400.000 Menschen, 2,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Spaniens, nach wie vor als Tagelöhner bei der Olivenernte. Den Rest des Jahres leben sie von der eigens für sie eingerichteten staatlichen Hilfe: 25.000 Peseten, weniger als 300 Mark monatlich, die allerdings nur bezieht, wer mindestens 60 Tage im Jahr gearbeitet hat.

„Seit selbst die Oliven maschinell geerntet werden, ist es immer schwieriger, auf die Tage zu kommen“, klagen die Mitglieder der SOC. „Viele von uns sind gezwungen, in den Nachbarprovinzen Arbeit zu suchen, um auf die geforderten 60 Tage zu kommen.“ Wo selbst das nicht reicht, kauft so mancher die nötige Unterschrift eines Großgrundbesitzers auf dem Arbeitsschein. „Eine entwürdigende Prozedur, und das im 20. Jahrhundert.“ Die einfache Lösung, die Juanma anzubieten hat: „Eine Landreform. Hier gehören 50 Prozent des Bodens 2 Prozent der Bevölkerung. Die Konzentration übertrifft die der dreißiger Jahre.“

Die jetzige Gerichtsverhandlung ist für Juanma nur eine unter vielen. Die mehr als 30 Hungerstreiks und über hundert Landbesetzungen der SOC – allesamt gewaltfrei – trugen ihm um die 40 Prozesse ein. „Ich habe schon längst aufgehört mitzuzählen. Verurteilt haben sie mich nur einmal wegen einer Landbesetzung“ – zwei Monate auf Bewährung.

Und grinsend erzählt er eine weitere Episode, die sich alljährlich wiederholt: der Kampf gegen den Einsatz von Maschinen bei der Olivenernte, den letzten Arbeitsplätzen der Tagelöhner. In den mittelalterlichen Nachbarstädtchen Estepa und Osuna, von wo sie kommen, ist man gar nicht gut auf Marinaleda zu sprechen. „Alles Spinner, aufgewiegelt von einem Berufsrevoluzzer“, so die gängige Meinung. Die von Juanma gepredigte Gewaltfreiheit hat man hier am eigenen Körper verspürt, blaue Augen und kaputte Maschinen mit inbegriffen.

Der bärtige Sánchez Gordillo machte das Dorf weit über Andalusien hinaus bekannt. Zwei Stunden mit aus Frankreich importierter Hochgeschwindigkeit von Madrid nach Sevilla, und dann noch mal die gleiche Zeit in einem Bus aus dem letzten Jahrzehnt über staubige Landstraßen, da liegt Marinaleda, mitten in der Sierra Sur, einer der ärmsten Regionen der iberischen Halbinsel. Die Lage am Ende der Welt und die Armut der Bevölkerung will so gar nicht zum Bild des Ortes passen. Auf der breiten, mit Palmen bepflanzten Hauptstraße, der „Freiheitsavenue“, spielt sich das Leben ab. Wichtigster Treffpunkt: das „Volkshaus“, wie ein Schild neben dem Eingang der Gewerkschaftszentrale verkündet.

Das Erdgeschoß ziert nicht etwa ein Buchladen, sondern eine Kneipe. Tische voller diskutierender Männer zeigen deutlich, daß die Informationen hier noch immer vor allem von Mund zu Mund gehen. Frauen sind hier kaum anzutreffen. Die stehen wie andernorts auch zu Hause am Herd.

Marinaleda weist eine Reihe ungewöhnlicher Einrichtungen auf. Zehn Stunden am Tag sendet das Dorfradio in die nähere Umgebung. Lokalnachrichten wechseln sich mit internationalistischen Themen ab, Gewerkschaftliches mit Pazifistischem, Ökologisches mit Feministischem, Flamenco mit Rap. Seit geraumer Zeit hat eine eigene Fernsehstation den Probebetrieb aufgenommen, eine Initiative, die aus dem Kreis um den Rundfunksender heraus entstand. Unterstützung findet man bei regierungsunabhängigen Organisationen in Holland, die eigentlich aus der Lateinamerika-Solidarität kommen. Die Dorfjugend vergnügt sich in einer gemeindeeigenen Freiluftdisco, die Kinder im Schwimmbad. Das ungewöhnliche Dorfleben ist Ergebnis freiwilliger Arbeitseinsätze. „Rote Sonntage“ nennt sich dies, fast wie einst im sandinistischen Nicaragua.

Das ehrgeizigste Projekt Juanmas sind die acht im Dorf entstandenen Genossenschaften. Auf 1.800 Hektar Land, die nach einer Besetzung ans Dorf fielen, entsteht ein Modell für ganz Andalusien. Neben ökologischem Landbau sollen hier neue Formen des Zusammenlebens erprobt werden. „Brot und Arbeit für ein Sechstel der Bevölkerung“, erklärt Sánchez Gordillo stolz im üblichen agitatorischen Ton.

Die SOC nimmt neun der elf Gemeinderatssitze ein. Die restlichen zwei Sitze, sagen hier fast alle, „gehen an die Rechten“ – gemeint ist die Sozialistische Spanische Arbeiterpartei (PSOE) von Regierungschef González. Diese zwei Gemeinderäte widersetzen sich so ziemlich allen Initiativen der SOC, wo immer sie eine Chance wittern, mit Hilfe der Gerichte. An Anlässen mangelt es nicht.

„Wir streben eine Ordnung an, bei der das Volk die Macht und den Reichtum in der Hand hat. Wir wollen nicht nur eine Landreform, sondern arbeiten für einen radikalen Gesellschaftswandel.“ Den Anfang dazu sieht er in der Politik der Gemeindeverwaltung. Alle wichtigen Beschlüsse fällt einmal im Jahr die Vollversammlung des Dorfes. Diese Versammlungen bieten ein Bild, das gar nicht so recht nach Europa passen will. In einer Scheune versammeln sich die Einwohner. Auf dem Podium Juan Manuel Sánchez Gordillo, rechts und links von ihm die Gemeinderäte der SOC. Keine Wohnungsvergabe, kein Gemeindehaushalt, keine Abgabenerhöhung ohne Zustimmung des Plenums. Zwischen den Versammlungen wird das Dorf von der 35köpfigen Aktionsgruppe verwaltet, die sich aus Delegierten der einzelnen politischen und sozialen Komitees zusammensetzt. Und davon gibt es viele: etwa für Sport, Feste, Umweltschutz und Ökologie, Pazifismus, Gewerkschaftliches, Aktionen...

Die Gemeinderäte arbeiten hier mit, haben aber keine besondere Stellung, sondern „sind einer mehr“, sagt Juanma stolz. Die Komitees setzen die Beschlüsse der Vollversammlung um. So verwundert es auch nicht weiter, daß das kleine Marinaleda unter Juanmas Regie Gemeindepartnerschaften ganz besonderer Art pflegt: „Wir haben enge Kontakte mit der FMLN in El Salvador, der Arbeiterpartei Brasiliens (PT), den Sandinisten in Nicaragua und der für die Befreiung der Westsahara kämpfenden Polisario“, zählt er auf.

In seiner Amtsstube ist Juanma nur selten anzutreffen. Sein Platz ist die Straße. Wo immer er auftaucht, ist er von einer Menschenmenge umringt und hört sich ruhig und aufmerksam die kleinen und großen Nöte seiner Leute an. Probleme mit der Krankenversicherung, einem Kaufvertrag oder einem Arbeitgeber – Juanma weiß Rat.

Fernseher und Auto hat er nicht – er läßt sich fahren

Luxus jeglicher Art sei ihm fremd, läßt der Bürgermeister wissen. Von seinen 1.800 Mark Gehalt gibt er die Hälfte „an Hilfsbedürftige ab“. Ihm bleibt immer noch doppelt soviel wie die Arbeitslosenhilfe, von der die meisten in Marinaleda leben. Juanma weiß, was er seinem Image als revolutionärer Berufspolitiker schuldig ist: Einen Fernseher, für ihn der „Feind in den eigenen vier Wänden“, und ein Auto besitzt er „selbstverständlich“ nicht. Er läßt sich fahren. Irgendwer hat immer Zeit im Dorf der arbeitslosen Tagelöhner.

Seine Ausflüge in die Provinzhauptstadt Sevilla werden häufiger, seit er bei den letzten Wahlen erfolgreich auf der Liste der Linkskoalition IU zum andalusischen Regionalparlament kandidierte. „Das Ziel war, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen“, betont er. „Mein Parlamentssitz wird vielen Kopfschmerzen bereiten, nicht nur der Rechten in diesem Land, sondern ganz sicher auch den gemäßigten Teilen der IU“, fügt er lächelnd und selbstzufrieden hinzu.

Die hauptstädtische Presse zeigt sich irritiert ob so viel Pathos: „Dieser Typ versteht es wie kein zweiter, sich immer in den Vordergrund zu drängen und sich den Mythos vom armen Andalusien zunutze zu machen. Seine Reden erinnern an einen Guerilla-Priester – schräg und abgedroschen. Aber wo in der Krise das Gespenst der Armut wiederauferstanden ist, gibt es immer noch Leute, die diese ausgediente Mischung aus christlichem Humanismus, marxistischer Dialektik und revolutionärer Begeisterung als kleineres Übel akzeptieren“, berichtet die überregionale Tageszeitung Diario 16 verständnislos aus Marinaleda, nur zwei Stunden von der Modernität des Geländes der Expo 1992 – heute in einen High-Tech-Park verwandelt – entfernt.