Am Anfang schickte Böll noch Geld

■ Der erste „horen“-Band wurde noch am Küchentisch getippt. /Deutschlands nördlichste Literaturzeitschrift feiert in Bremenhaven 40. Geburtstag/ Marathonstrecke für die Redakteure

Frühling, Sommer, Herbst – für die drei Jahreszeiten, Symbole für Blüte und Fruchtbarkeit, waren im alten Griechenland die Horen zuständig: zweitklassige Göttinnen ohne rechten Bekanntheitsgrad. Letzteres sollte sich ändern als ein gewisser Friedrich Schiller über sein Zeitungsprojekt an den Dresdner Freund Christian Gottfried Körner schrieb: „Die ,Horen' sollen ein Epoche machendes Werk sein, und alles, was Geschmack haben will, muß uns kaufen und lesen!“ Das war vor 200 Jahren. Genau 3 Jahre später entschlief das ambitionierte Literaturperiodikum wieder sanft, mangels Autoren. Literaturzeitschriften ähneln darin oft Sommerblumen – da half keine Göttin – , sie sind einjährig.

Wenn die Bremerhavener „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ gleichen Namens ihr Vorbild schon in der ersten Runde hinter sich ließ und mittlerweile stolze 40 Kerzen auf dem Geburtstagskuchen ausblasen darf, gilt der Applaus dem langen Atem dieser deutschen Literaturzeitschift und dem unveränderten Anspruch: hoch hinaus.

Hehre Ziele waren zu Beginn auch das einzige, was man vorzuweisen hatte. Der langjährige horen-Reakteur Kurt Morawietz tippte die erste Ausgabe noch am Küchentisch auf der mechanischen Schreibmaschine. Startauflage im Jahre 1955: zehn Exemplare. Wachsmatrizentechnik samt Druckmaschine mit Handkurbel folgten. Alle Mitglieder des Hannoveraner Literaturkreises hatten offensichtliche die gleichen Probleme: Sie konnten ihre Texte nicht an den Verleger oder Redakteur bringen, was lag da näher als sie selber zu drucken. „Die horen“ waren geboren und sollen auch über die folgende Marathonstrecke nicht an Autorenmangel wie noch der Schillerschen Namenspatron leiden. Solidarische Unterstützung in Form von Kritik oder Texten kam von Arno Schmidt, Brecht, Grass, Celan und Anna Seghers. Für das 1968er-Heft schickte Heinrich Böll aus Köln anstelle eines eigenen Beitrags 100 Mark.

In jenen Jahren wurden die horen schon mit 800-900 Exemplaren gedruckt. Zur Zeit der Gründungseuphorie, als Freibeuter und Kursbuch entstanden, boomte es in der deutschen Zeitschriftenszene. „Man wollte die Literatur auf die Straße tragen“, erinnert sich Johann Peter Tammen. Ein Anspruch, den „die horen“ schon damals nur äußerst bedingt einlösten. Ihre Strategie: Dokumentationsbände über kleine Literaturen vorlegen. „Wir weigern uns aber, unser Profil ein Minoritätenprogramm zu nennen – und mit diesem Begriff ganze Literaturen zu denunzieren. Es ist schließlich keine Kunst, sich für die Literaturszene Frankreichs stark zu machen, die eh jeder kennt. Aber wer gibt schon wie wir einen ganzen Band über Island heraus? Da stecken gut und gerne zwei bis drei Jahre Arbeit drin!“

Die Wahl der literarisch zu entdeckenden Länder kann dabei ganz zufällig sein. Ein befreundeter Redakteur blieb bei seinem Flug in die USA durch einen Maschinenschaden zufällig in Rejkiavik hängen. Mehrere Nächte in den Kneipen der übersichtlichen isländischen Szenen folgten. „Als er zurück kam, war klar, wir machen etwas über Island.“ Mittlerweile ist das Heft in der dritten Auflage erschienen, antiquarisch gesucht und der Renner unter den Länderbänden, behauptet Temmen. Weitere Stützen im „horen“-Programm bilden die Bände mit Gegenwartsliteratur, die den Redakteuren tägliche Einsendungen von Nachwuchsschriftstellern bescheren, worunter allerdings 90 Prozent Ausschuß sind und „horen“-Bände über zu Unrecht vergessene Autoren der deutschen Literatur.

Diese Konstruktion hält sich seit Jahren. Doch während etwa die Auflage des „Kursbuch“ von anfangs 20000 auf nunmehr 8000 gesunken ist, konnten „die horen“ sich mittlerweile bei einer Auflage von 5000-5500 Exemplaren stabilisieren. 2700 Abonnenten ist man sich bundesweit sicher; 1500 Bände sind im gut sortierten Fachhandel erhältlich. Mit 15 Mark ist der Preis durchaus moderat.

Und auch eine weitere Hürde hat man in der Bremerhavener Redaktion genommen: Seit 1985 werden den Autoren Honorare gezahlt. Möglich wurde das durch 60000 Mark Förderung aus Niedersachsener Landesmitteln. Das Rückgrat der Finanzkonstruktion stellt der Bremerhavener Verlag für neue Wissenschaft, der für die Literaturzeitschrift, Druck, Vertrieb und Abwicklung übernommen hat. Was er davon hat? „Ein Mäzen ist ein Mäzen, weil er ein Mäzen sein möchte“, lautet die philosophische Antwort der dankbaren Redakteure, die auch weiterhin ehrenamtlich arbeiten.

Der Frust darüber hält sich in Grenzen, weil positive Kritiken und Preise die Redakteure bei der Stange halten. Die Londoner „Times“ etwa sprach von einer „der gescheitesten und konsequentesten unter den Zeitschriften“. Und den Alfred Kerr-Literaturpreis bekamen die „horen“ gleich zweimal.

Und scheren sich keinen Deut um zeitgeistige Layout-Tendenzen. Vielleicht sind die über 200-seitigen Bleiwüsten in Schwarz/weiß die letzte Reminiszenz an den „horen“-Prototyp aus dem Hause Schiller. Findet auch Klaus Stadtmüller, von Haus aus Jurist und neues Redaktionsmitglied: „Manchmal kommen mir die horen etwas ernst vor. Das würde ich vielleicht ändern wollen.“

Susanne Raubold