■ Schrecklich wichtig:
: Ost-West-Studien

Wie kämen wir nur zurecht, wenn wir keine Sozialforscher hätten? Würden wir nicht ohne Verstand strukturlos vor uns hin leben, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, warum, wer, was und wie wir sind? Daß es zum Beispiel zwischen West- und Ostdeutschen auch sechs Jahre nach dem Zusammenbruch der Mauer noch erhebliche Unterschiede im Lebensstil gibt, wüßten wir doch überhaupt nicht, wenn es die Berliner Sozialforscherin Annette Spellerberg nicht gäbe.

Diese Leuchte der Wissenschaft nämlich hat unter anderem festgestellt, daß Ostdeutsche „eher familienorientiert“ seien, während Westdeutsche „häufiger ausgehen“. Wer jetzt glaubt, Frau Spellerberg hätte dies herausgefunden, indem sie zum Beispiel im schleswig-holsteinischen Eckernförde und im brandenburgischen Finsterwalde jeweils an einem ganz gewöhnlichen Freitagabend versucht hat, die Luft zum Brennen zu bringen, mit dem voraussehbaren Ergebnis, daß in Eckernförde fast nichts, in Finsterwalde dagegen gar nichts los ist, so daß die relativ höhere Ausgehfreudigkeit des westlichen, von ein bis zwei Schankwirtschaften angelockten Eckernförders gleich ebenso ruck, zuck erklärt wäre wie die dumpfe Familienaffinität des weitgehend kneipenfrei lebenden östlichen Finsterwalders – wer also glaubt, Frau Spellerberg würde auf diese Weise empirisch sozialforschen, der hat keine Ahnung.

Sozialforschung ist nämlich viel subtiler und geht so: „Daß die Ostdeutschen eher die Familie in den Mittelpunkt stellen, kann man an dem Satz ,Ich lebe ganz für meine Familie‘ ablesen“, sagt nämlich blitzgescheit und äußerst logisch Frau Spellerberg und fügt hinzu, 40 Prozent der Ostler und damit 10 Prozent mehr als bei ihren westlichen Vereinigungsfeinden hätten diesen gräßlichen Satz unterschrieben – und das bei immerhin 1.550 westdeutschen und 776 ostdeutschen Befragten! Man stellt sich lebhaft vor, wie Frau Spellerberg seinerzeit ihr ehrenvolles Sozialforscherinnen-Examen ablegte, indem sie nachwies, daß man an dem Satz „Ich esse gerne Würstchen“ eine gewisse Vorliebe für Würstchen ablesen könne.

Daß übrigens die Ostler wahrscheinlich aus Geldknappheit nicht so häufig ausgehen, weil sie gleich nach der Umrubelung der Alu-Chips in D-Mark ihr gesamtes Erspartes für Mittelklassewagen, Supervideotruhen und ähnliches auf den Kopf gehauen haben, Dinge also, die dem Westler nur deswegen an dem Ostler so verächtlich vorkamen, weil er selbst, der Westler, ihnen schon jahrelang anhing und täglich huldigte – die Sozialforscherin ahnt das alles nicht. Dafür weiß sie, daß in ganz Deutschland der Typ des „bodenständigen Bastlers und Sammlers“ angetroffen wird. Und, so dürfen wir ergänzen, der Typus „dusselige Sozialforscherin“. Klaus Nothnagel